„Entschiedene Abwehr und harte Sühne“
Die finanzielle Bestrafung der jüdischen Bevölkerung nach dem 9. November 1938
Am 13. Dezember 1938 erhält Helene Gumpert Post vom Finanzamt ihrer Heimatstadt Parchim. In knappen Worten wird mitgeteilt, dass sie zur Zahlung von 2.800 RM verpflichtet ist, die sie in vier Teilbeträgen unter dem Stichwort „Judenvermögensabgabe“ an das Amt zu zahlen habe. Die erste Rate ist schon zwei Tage später – am 15. Dezember – fällig.
Zu diesem Zeitpunkt ist Helene Gumpert 84 Jahre alt, sie hatte mit ihrem verstorbenen Mann Gustav vier Kinder groß gezogen. Ihre Familie ist seit mindestens 1804 in Parchim ansässig und hatte durch einen florierenden Tuchhandel nebst Fabrikation den Ruhm der Stadt weit über die Grenzen Mecklenburgs hinausgetragen. Nach Gustav Gumperts Tod im Jahr 1930 hatten seine Söhne Leo und Rudolph Gumpert die Geschäfte bis nach Hamburg ausgeweitet. Doch dieser Glanz ist längst verblasst. Die Tuchfabrik war „arisiert“ worden, die Brüder Gumpert in einen quälenden Rechtsstreit mit den Käufern verstrickt. Während der besonders wütenden Ausschreitungen des Novemberpogroms in Parchim war Rudolph Gumpert verhaftet und im Zuchthaus Alt-Strelitz inhaftiert, sein Bruder Leo ins KZ Sachsenhausen verschleppt worden. Helene Gumpert steht vor den Trümmern ihres Lebens.
Die Novemberpogrome als Auftakt fiskalischer Ausplünderung
Die Pogrome vom November 1938 stellten in jeder Hinsicht eine Zäsur im Leben der deutschen Juden*Jüdinnen dar. Die erbarmungslose Gewalt gegen Leib und Leben, die Zerstörung wirtschaftlicher Existenzen und religiöser Stätten innerhalb kurzer Zeit markierten vorläufig den traurigen Höhepunkt jahrelanger Ausgrenzung und Entrechtung. Eine Atempause gab es nach dem 9. November für die Betroffenen nicht – in kurzer Folge wurden umfangreiche Gesetze und Verordnungen erlassen, die den in Deutschland verbliebenen Juden*Jüdinnen die Existenzgrundlage vollkommen entziehen sollten.
Schon am 12. November trafen sich unter der Leitung von Hermann Göring Vertreter der an der „Judenpolitik“ beteiligten staatlichen Stellen. Am Ende der Konferenz stand nach kontroverser Diskussion die „Verordnung über die Sühneleistung der Juden deutscher Staatsangehörigkeit“. Zwei Tage später wurde die nur zwei Paragraphen umfassende Verordnung im Reichsgesetzblatt veröffentlicht und erhielt damit ihre gesetzliche Gültigkeit. Der Wortlaut ist knapp:
„Die feindliche Haltung des Judentums gegenüber dem deutschen Volk und Reich, die auch vor feigen Mordtaten nicht zurückschreckt, erfordert entschiedene Abwehr und harte Sühne.“
Nach Lesart der Gesetzgeber konnte die Sühneleistung nur durch Geld erfolgen – 1.000.000.000 Reichsmark musste die Gesamtheit der deutschen Juden*Jüdinnen aufbringen und an das Reich abführen. Das Reichsministerium der Finanzen sollte in Kürze Bestimmungen zur Umsetzung der Abgabeleistung erlassen.
Akuter Geldbedarf des Staates
Pläne für Sondersteuern, die ausschließlich Juden*Jüdinnen treffen sollten, existierten seit langem, waren aber aus verschiedenen Gründen bislang nicht zur Ausführung gelangt. Doch im Herbst 1938 traf die günstige politische Gelegenheit – das Attentat auf Legationssekretär Ernst vom Rath als perfekter Vorwand – auf eine verschärfte Notlage der Staatsfinanzen. Mit der Kontribution sollte also weniger die Schuld eines Einzelnen durch die Gesamtheit finanziell abgetragen werden, sondern vielmehr sollte sie den akuten Geldbedarf des Reichshaushaltes im Zusammenhang mit der Rüstungsfinanzierung decken helfen. (Es ist kein Zufall, dass es Göring war, der als Beauftragter für den Vierjahresplan die Verordnung unterzeichnete. Innerhalb von vier Jahren sollte das Deutsche Reich wirtschaftlich und militärisch kriegsfähig sein).
Durchführung der „Judenvermögensabgabe“
Die Frage, wie die Milliarde aufgebracht werden sollte, wurde mit der Durchführungsverordnung vom 21. November 1938 beantwortet. Juden*Jüdinnen deutscher Staatsangehörigkeit sowie staatenlose Juden*Jüdinnen mit einem Vermögen von mehr als 5.000 RM sollten 20 Prozent davon an ihr örtliches Finanzamt abführen. Für die Zahlung waren vier Raten im Abstand von zwei bzw. drei Monaten vorgesehen. Die erste Zahlung war am 15. Dezember 1938 fällig. Sollte der Betrag durch diese Zahlungen nicht zustande kommen, behielt sich die Verwaltung die Einziehung einer fünften Rate vor.
Schon Anfang Dezember verschickten die Finanzämter die ersten Bescheide zur Judenvermögensabgabe an die betroffenen Haushalte. Als Berechnungsgrundlage nahmen die Finanzämter den Stand des Vermögens im Jahr 1938 her. Es war gar nicht mehr nötig, dafür Vermögenserklärungen abzufordern. Schon im April desselben Jahres hatte die „Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden“ alle Juden*Jüdinnen gezwungen, ihre Vermögensverhältnisse gegenüber den Finanzbehörden offenzulegen.
Diese vom Reichswirtschaftsministerium ausgehende Verordnung hatte zunächst wohl zum Ziel, einen Überblick und damit die Kontrolle über das verbliebene Wirtschaftskapital zu erlangen. Nach Auswertung der Verzeichnisse ging das Ministerium von einem Kapital von rund 5 Milliarden Reichsmark aus, das für die deutsche Wirtschaft verfügbar gemacht – also enteignet – werden konnte.
Die Steuerpflichtigen hatten keine Einspruchsmöglichkeit. In einigen Fällen wurden die Bescheide berichtigt, wenn sich die Vermögen zwischen April und November 1938 signifikant verkleinert hatten. Im Verlauf des Jahres 1939 zeichnete sich ab, dass die geforderte Summe nur durch die Abgabe einer weiteren fünfprozentigen Rate erreicht werden konnte. Da die Wenigsten noch über ausreichende Mittel verfügten, wurde diese Rate zwar vielfach gestundet, erlassen wurde sie jedoch nicht.
„Wir mussten gestern noch stundenlang zur Finanzbank, wo wir nun auch die I. Rate der Sühneschuld erledigt haben. Hoffentlich! Es war eine schreckliche Arbeit, denn es kamen gestern wieder neue Bestimmungen, die einem den Kopf noch wieder mehr erschweren.“
Über eine Milliarde Reichsmark plus „Arisierung“ von Unternehmen
Die angestrebte Geldsumme von einer Milliarde Reichsmark wurde letztendlich übertroffen. Die Finanzämter verschickten ihre Zahlungsaufforderungen sogar an bereits im Ausland lebende Emigrant*innen. Da der Staat seine Hand längst auf die zurückgebliebenen Vermögenswerte gelegt hatte und sie sich auf Sperrkonten befanden, war für die meisten eine Zahlung unausweichlich.
Insgesamt mussten die deutschen Juden*Jüdinnen bis zum Ende des Jahres 1939 25 Prozent ihres Vermögens dem Staat überlassen. Gleichzeitig sanken die Einkommen gegen Null, war doch zeitgleich mit dem Beschluss über die Sühneleistung auch das „Gesetz zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben“ erlassen worden, das die „Arisierung“ jüdischer Unternehmen zum Abschluss brachte und Juden*Jüdinnen mit Wirkung zum Jahresende faktisch jede wirtschaftliche Betätigung untersagte. Die prekäre finanzielle Lage ließ für viele die Flucht aus Deutschland in weite Ferne rücken, wenn sie nicht sogar gänzlich verhindert wurde.
Das Nachspiel ...
Nach dem Krieg konnten Juden*Jüdinnen in der Bundesrepublik Deutschland finanzielle Entschädigung beantragen, auch wegen der Vermögensverluste infolge der „Judenvermögensabgabe“. Wichtig dabei war, der Entschädigungsbehörde Unterlagen als Beweis vorzulegen. Die Bescheide vom Finanzamt von 1938/39 bekamen nun plötzlich eine weitere Bedeutung: Sie bezeugten die staatlich organisierte Ausplünderung.
Für Helene Gumpert gab es jedoch keine Wiedergutmachungszahlungen mehr. Sie starb 1941 völlig verarmt in Parchim. Zuvor musste sie noch erleben, wie das Haus ihrer Familie in ein sogenanntes „Judenhaus“ verwandelt wurde, aus dem die letzten Parchimer Juden*Jüdinnen nach und nach in den Tod deportiert wurden.
Ulrike Neuwirth, Archiv
Zitierempfehlung:
Ulrike Neuwirth (2018), „Entschiedene Abwehr und harte Sühne“. Die finanzielle Bestrafung der jüdischen Bevölkerung nach dem 9. November 1938.
URL: www.jmberlin.de/node/5971
Online-Features: Zur Vorgeschichte und den Folgen des 9. November 1938 (5)