Warum ist das Erinnern an das jüdische Erbe von Lwiw so wichtig?
Interview mit Sofia Dyak, Historikerin und Direktorin des Center for Urban History in Lwiw
Wodurch unterscheiden sich jüdisches Leben in der Westukraine und in der Ostukraine historisch gesehen voneinander?
In der Vergangenheit gehörte die Ukraine zu unterschiedlichen Staaten bzw. Weltreichen. Die heutige Westukraine war einmal ein Teil von Österreich-Ungarn, und in der Zwischenkriegszeit gehörte diese Region zu Polen. Viele Jüdinnen*Juden sprachen Deutsch, sie sprachen Polnisch oder schrieben Polnisch. In der zentralen, der südlichen und in der Ostukraine, die alle zum Russischen Reich gehörten und Teil des Ansiedlungsrayons waren, wurden mehrere Sprachen gesprochen, vor allem Russisch, aber auch Jiddisch wurde überall gesprochen. Das ist eine wichtige Sprache, die in der [heutigen] Ukraine fehlt. Die Verschiedenheit verstärkte sich durch den Umstand, dass Galizien in das Generalgouvernement eingegliedert wurde, als es 1941 von Nazideutschland besetzt wurde. Viele Menschen konnten nicht entkommen. Wohingegen viele Menschen aus der zentralen und der östlichen Ukraine entkamen. Sie konnten evakuiert werden. In der Westukraine gibt es deutlich weniger Kontinuität, sondern vielmehr einen Bruch. Die jüdischen Bewohner*innen von Lwiw, Riwne, von Stanyslawiw, dem heutigen Iwano-Frankiwsk, und Städten wie Brody und Solotschiw, die die Schrecken der Besetzung und der Schoa überlebten, gingen nach Polen und von dort nach Israel und in die Vereinigten Staaten.
Gedachte man im sowjetischen Lwiw des jüdischen Erbes der Stadt und der Ermordung eines Großteils seiner jüdischen Bevölkerung durch Nazideutschland?
Ganz zu Beginn, als die Rote Armee in die Stadt einrückte, es war Sommer, Ende Juli 1944, berichtete die lokale Presse in den ersten Monaten ziemlich viel über die Gräueltaten, die die Nazis in der Stadt begangen hatten. Doch dann, als sich dieses Bild bzw. die offiziellere Darstellung vom Krieg und von der Besatzung in der Sowjetunion verfestigte, blieb kein Raum mehr für Besonderheiten, geschweige denn für die Einmaligkeit der Ermordung der Jüdinnen*Juden, im Sinne eines Genozids. All das wurde eingebunden in die Geschichte der sowjetischen Zivilbevölkerung. Man fand keinerlei Denkmäler für Jüdinnen*Juden, die ermordet worden waren, oder Orte des Gedenkens an die Schoa. Doch in einigen Städten oder Dörfern entdeckte man manchmal, das hing von der Gemeinde ab, Inschriften mit Namen von Menschen, Zivilist*innen, die umgebracht worden waren. Was die persönliche Erinnerung betrifft, sieht die Sache jedoch vollkommen anders aus. Menschen erzählen Geschichten. Für einige, für viele, ist es eine Geschichte über ihre Familie, denn viele Jüdinnen*Juden haben durch die Evakuierung überlebt, sie entkamen, und sie kehrten zurück, und es ist die Geschichte ihrer Verwandten.
Hat sich das öffentliche Narrativ seither verändert?
Man sagt, dass sich die Dinge nach 1991 verändert haben, doch sie haben sich schon mit der Perestroika, Ende der 1980er-Jahre, verändert, als viele Dinge Thema wurden. Beispielsweise wurde die Gedenkstätte für das Ghetto in Lwiw Anfang der 1990er-Jahre eröffnet. Die Diskussion und die Initiative entstanden mit der Gründung der Sholem Aleichem Jewish Culture Society. Es ist eine Geschichte der späten Sowjetunion, die zu einer Geschichte der frühen unabhängigen Ukraine wurde. Die Geschichte der Stadt war immer noch stark auf die Ukraine ausgerichtet, abzüglich allem, was sowjetisch war. Man entledigte sich der sowjetischen Überreste in der Stadt: Straßennamen, des Lenin-Denkmals. Sie verschwanden ziemlich schnell. Und es war natürlich eine Herausforderung für die Geschichte der Stadt, in der sehr, sehr viele jüdische und polnische Bewohner*innen leben und lebten, wie man dies am besten in das Narrativ der Geschichte dieses Ortes einfügt. Es braucht Zeit, um etwas über die Geschichten der Menschen zu erfahren. Was ist passiert? Wie haben die Menschen gelebt? Etwas über Organisationen, Ideen und Künstler*innen zu erfahren, und über die ganze unermessliche Fülle des Lebens in der Stadt. Einige der Erinnerungsprojekte sind Teil der Suche und zeigen, dass es immer noch so viel zu entdecken gibt, und es gilt, Wege zu finden, um all das sichtbar zu machen. Es gibt Spuren, Zeichen, die nicht von uns heutigen Menschen stammen, sondern die erhalten geblieben sind, entdeckt und sichtbar gemacht wurden. Diese Zeichen sind Inschriften an Gebäuden, die auf Polnisch oder Jiddisch sagen, dass dort früher ein Laden oder ein Büro war, oder es handelte sich um eine Anzeige. Die Schichten und Brüche der Stadt zeigen sich an den Gebäuden. Sie sprechen – wenn man ein offenes Ohr hat und bereit ist, sie zu hören.
Warum ist das Erinnern an das jüdische Erbe der Stadt aus Ihrer Sicht als Historikerin so wichtig?
Warum müssen wir uns erinnern? Ich denke, um menschlich zu sein. Was uns menschlich macht, sind Beziehungen, die Beziehungen zu dem Ort, an dem wir leben, die Beziehungen zu den Menschen um uns herum, aber auch zu denen, die gelebt haben, als es uns noch nicht gab. Ich glaube, sie erzählen uns, wer wir sind. Und je mehr Geschichten wir aus der Vergangenheit bergen können, desto sensibler werden wir und desto bessere Menschen können wir sein. Es geht um die Würdigung der Menschen, die vor mir kamen, die in der Stadt lebten, in der ich heute lebe. Ich glaube, dass diese Empathie Lwiw als Stadt jüdischer machen kann: dadurch, wie es mit seiner Vergangenheit umgeht, und durch die Art, wie sich die Bewohner*innen von Lwiw mit den Menschen identifizieren, die ihr Zuhause verlassen mussten, um hier Schutz in einem neuen Zuhause zu finden. Denn momentan leben in Lwiw 150.000 geflüchtete Ukrainer*innen.
Wessen Verantwortung ist es, die Orte und die Lebensgeschichten, die diese Orte bezeugen, zu würdigen?
Das ist die Aufgabe von uns allen. Zwar gibt es große Projekte, doch daneben gibt es unendlich viele kleine Dinge, die man tun kann. Wenn man beispielsweise in einem alten Haus wohnt, ist es hilfreich, sich zu fragen: „Wer hat hier früher gelebt?“ Man kann ein wenig im Internet recherchieren und herausbekommen, wer vorher in dem Haus wohnte. Man kann respektvoll mit dem Ort umgehen. Ich kann mir also bewusst machen, dass es Menschen gab, die vor mir hier gelebt haben, und dass auch nach mir Menschen hier wohnen werden. Und irgendwann [kann man] die Tür aufmachen, falls jemand klopft oder klingelt und sagt, dass seine Großeltern oder Verwandten hier gewohnt haben. Das sind kleine Dinge, die jeder von uns tun kann. Ganz zu schweigen von der Zivilgesellschaft, von Museen und Künstler*innen, Gemeinden, Historiker*innen und Fachleuten. Das sind wichtige Akteur*innen. Das Gleiche gilt für jüdische Organisationen, denn sie sind zahlreich, und es gibt in der Ukraine nach wie vor eine ziemlich lebendige jüdische Szene.
Ist das Gedenken an das jüdische Erbe Lwiws durch den gegenwärtigen Krieg gefährdet?
Das kann man nie wissen. Jeden Moment könnte eine Bombe auf ein Museum oder ein Kulturzentrum fallen. Und vor allem führt der Krieg zu einer massiven Vertreibung. Man denke nur an Städte wie Charkiw, Dnipro, Kiew und Odesa, die sehr nah an der Front liegen; Menschen sind aus diesen Städten geflohen. Diese Vertreibung ist eine ernsthafte Gefahr für das Fortbestehen des jüdischen Erbes in seiner allerwichtigsten Form: Menschen.
In einem Interview im März 2022 haben Sie gesagt, Deutschland habe die Chance, sein Verhältnis zur Geschichte Osteuropas neu zu denken. Was haben Sie damit gemeint?
Das ist eine längere Geschichte und hat damit zu tun, wie über den Zweiten Weltkrieg gesprochen wird, sowie damit, dass die Sowjetunion oft vereinfachend als Russland dargestellt wird, was aber nicht richtig ist. Und wenn man an Osteuropa denkt und daran, inwiefern es ein Teil der Sowjetunion war … Tatsächlich waren es Belarus und die Ukraine, die die meisten Zivilopfer zu beklagen hatten und besonders unter der Besatzung litten. Außerdem stellten sie einen großen, bedeutenden Teil der Roten Armee. In Belarus sieht die Sache derzeit ein wenig anders aus. Auch in der Ukraine ist es schwierig, die Geschichte der Sowjetära neu zu erzählen und zu überlegen, wie man einen Weg findet, sie anzuerkennen und sie zugleich kritisch zu beurteilen. In Deutschland – und das ist eine Verallgemeinerung – stand Osteuropa ziemlich im Schatten von Russland, aber die Angelegenheit ist eben komplizierter. Osteuropa besteht aus mehreren Ländern mit mehreren Gesellschaften. Das zu erkennen bzw. sich damit auseinanderzusetzen, hilft uns wirklich zu überdenken, wie wir auf den letzten Krieg blicken und wie wir im gegenwärtigen Krieg handeln.
Hat Deutschland seine Herangehensweise im vergangenen Jahr geändert?
Ich habe gesehen, dass es viele Veranstaltungen, Veröffentlichungen und Interviews gibt, und ich glaube, dass ein Wandel in Richtung einer komplexeren Sichtweise stattgefunden hat, sodass man von Berlin aus nicht einfach mehr direkt auf Moskau schaut, sondern weiß, dass dazwischen noch ein paar andere Orte liegen. Manchmal denke ich, dass der Preis fürs Lernen wirklich hoch ist. Das, was wir gerade in der Ukraine durchmachen, aber auch die Geschehnisse anderswo in Europa und auf der Welt zwingen uns, das zu überdenken, was wir zu wissen glaubten. Das Interview führte Immanuel Ayx; Jüdisches Museum Berlin, Mai 2023. Auf unserer Website finden Sie einen Mitschnitt der Veranstaltung zu Lwiw mit Philippe Sands, Sofia Dyak und Marina Chernivsky am 8. Mai 2023.