Figur-Grund
Jana Sterbaks Golem: Objects as Sensations – Beitrag im Ausstellungskatalog GOLEM
Rita Kersting
Die sieben am Boden liegenden Elemente bilden eine mehr oder weniger gerade lange Linie, die auf einen Viertelkreis aus acht gleichen Formen stößt. Fast unmittelbar erkennt man eine Figur, eine stilisierte Darstellung, die einem fremden Kulturkreis entnommen scheint, Fetisch, Feldzeichen oder Fruchtbarkeitsgott, ausgegraben aus einer bisher unbekannten historischen Schicht.
Die kanadische Künstlerin Jana Sterbak hat mit der Arbeit Golem: Objects as Sensations ihrer Heimatstadt Prag Referenz erwiesen. Zentraler als die vollendete magische Figur des Golems sind ihre Fragmente, ihre Organe, die als Objekte des künstlerischen Schöpfungsmythos die installative Komposition bestimmen: Magen, Milz, Hand, Herz, Kehle, Penis und eine Zunge (unter der in der Legende der den Golem aktivierende Zettel mit dem schem, dem Namen Gottes, liegt). Organe stehen ebenso wie die verschiedenen Metalle Bronze und Blei in der Alchemie für unterschiedliche Temperamente, die mit Planeten verbunden sind, und tatsächlich erinnert die Konstellation auf dem Boden an ein Sternbild. Die Golem-Legende, die im 16. Jahrhundert angesiedelt ist, und die Alchemie, die ebenfalls in Prag unter Rudolf II. eine Blüte erlebte, bilden zentrale Ausgangspunkte dieser Arbeit. Jana Sterbaks Interesse am Körper als ferngesteuertes, kontrolliertes Gebilde zeigt sich in ihrer Arbeit Want You to Feel the Way I Do (1985), einem Kleid aus Maschendraht, in das glühender Nickeldraht eingewebt ist, oder in Remote Control (1989), einem metallenen Reifrock, dessen Trägerin sich mithilfe einer von einem Mann bedienten Fernsteuerung bewegt. Käfige bilden in Sterbaks Werk den Körper begrenzende Kleider, ein Echo aus der Zeit des Prager Frühlings und der beginnenden Frauenbewegung. 1991 schuf Sterbak ihre bekannteste Skulptur, Flesh Dress for an Albino Anorectic, ein Kleid, das sie aus 50 Stücken Fleisch, genauer: rohem Lendensteak, nähte und trug. Das fast noch blutende Fleisch über der nackten Haut spiegelte das Innere der Trägerin im körperlichen als auch im psychischen Sinne. Und wieder verweist das Material auf eine andere Realität, auf Vanitas und Verletzlichkeit. Das Zerstückeln und Verspeisen von rohem Fleisch bildet ein zentrales Element von Schöpfungsmythen aus allen Zeiten und führt uns zurück zu Golem: Objects as Sensations. Diese Arbeit, die die eigene Objekthaftigkeit betont, steht in einer bildhauerischen Tradition, die von Alina Szapocznikow über Eva Kmentová bis hin zu Mária Bartuszová reicht. Die experimentelle Handhabung des Materials, die Hand als Formwerkzeug, das Abgießen von Körperteilen und das Interesse an Fragment und Körperlichkeit verweisen nicht nur auf einen männlich besetzten Kreationsmythos, sondern blicken auch auf eine Weiterführung feministischer künstlerischer Ansätze (nicht nur) in Prag.
Rita Kersting ist seit 2012 Landeau Family Curator for Contemporary Art im Israel Museum Jerusalem. Zuvor war sie Direktorin des Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen in Düsseldorf und arbeitete als Kuratorin in Krefeld.
Zitierempfehlung:
Rita Kersting (2016), Figur-Grund. Jana Sterbaks Golem: Objects as Sensations – Beitrag im Ausstellungskatalog GOLEM.
URL: www.jmberlin.de/node/4693
Online-Ausgabe des Katalogs GOLEM: Inhaltsverzeichnis
- Der Golem in Berlin – Einleitung von Peter Schäfer
- Kapitel 1
- Der Golem lebt – Einführung von Martina Lüdicke
- My Light is Your Life – von Anna Dorothea Ludewig
- Avatare – von Louisa Hall
- Das Geheimnis des Cyborg – von Caspar Battegay
- Kapitel 2
- Jüdische Mystik – Einführung von Emily D. Bilski
- Golem-Zauber – von Martina Lüdicke
- Golem, Sprache, Dada – von Emily D. Bilski
- Kapitel 3
- Verwandlung – Einführung von Emily D. Bilski
- Aktuelle Seite: Figur-Grund. Jana Sterbaks Golem: Objects as Sensations – von Rita Kersting
- Crisálidas (Schmetterlingspuppen) – von Jorge Gil
- Rituale – von Christopher Lyon
- Der Golem, der ein gutes Ende nahm – von Emily D. Bilski
- Über den Golem – von David Musgrave
- Louise Fishmans Farb-Golem – von Emily D. Bilski
- Kapitel 4
- Mythos Prag – Einführung von Martina Lüdicke
- Golem-Variationen – von Peter Schäfer
- Rabbi Loews wohlverdientes Bad – von Harold Gabriel Weisz Carrington
- Kapitel 5
- Horror und Magie – Einführung von Martina Lüdicke
- Golem und ein kleines Mädchen – von Helene Wecker
- Der Golem mit tanzender Kinderschar – von Karin Harrasser
- Die Belebung der Filmkulisse – von Anna-Carolin Augustin
- Der Golem und Mirjam – von Cathy S. Gelbin
- Kapitel 6
- Außer Kontrolle – Einführung von Emily D. Bilski
- Mit glühendem Hammer erweckter Mann – von Arno Pařík
- Gefährliche Symbole – von Charlotta Kotik
- Gib acht, was du dir wünschst – von Marc Estrin
- Kapitel 7
- Doppelgänger – Einführung von Martina Lüdicke
- Aus dem Golem-Talmud – von Joshua Cohen
- Kitajs Kunst-Golem – von Tracy Bartley
- Der Golem als Techno-Imagination – von Cosima Wagner
- Siehe auch
- GOLEM – 2016, Online-Ausgabe mit ausgewählten Texten des Katalogs zur GOLEM-Ausstellung
- GOLEM – 2016, Printversion des Katalogs zur GOLEM-Ausstellung
- Der Golem. Von Mystik bis Minecraft – Online Feature, 2016
- GOLEM – Ausstellung , 23. Sep 2016 bis 29. Jan 2017