Jüdische Mystik
Einleitung zu Kapitel 2 des Ausstellungskatalogs GOLEM
Emily D. Bilski
„Große Menschen waren einst durchaus imstande große Wunder zu vollbringen.“ So beginnt die Erzählung Der Golem des Schriftstellers Jizchok Leib Perez, und es gibt kein größeres Wunder als Leben zu schaffen. In der jüdischen Mystik gilt das Schaffen eines Golem als Versuch, sich Gott anzunähern um spirituelle Vollkommenheit zu erlangen. Aus Staub oder Erde geformt, wurde der Golem durch Beschwörungsformeln, rituelle Handlungen und bestimmte Kombinationen hebräischer Buchstaben zum Leben erweckt. In diesen Ritualen betonten die jüdischen Mystiker vor allem den Prozess des Schaffens: Der Vorgang selbst war wichtiger als der Zweck, dem ein Golem dienen könnte. Entsprechend wurde ein Golem, kaum zum Leben erweckt, sofort wieder leblos gemacht.
Mittelalterliche „Rezepte“ zur Erschaffung eines Golem wurden in Manuskripten weitergegeben, so wie jene, die in den Schriften Eleasars von Worms überliefert sind. Diese Werke stellen wichtige Quellen für die Erforschung der jüdischen Mystik dar, wie sie von dem in Berlin geborenen Gershom Scholem (1897–1982) ins Leben gerufen wurde.
Dem Vorgang des Schaffens und des Zerstörens eines Golem wurde von Lynne Avadenka in ihrem Künstlerbuch – dessen Cover an Lehm erinnert – eine aktuelle literarische und visuelle Form gegeben. Die Erfahrung von Transzendenz als letztes Ziel der Golem-Kreation ist ein weiteres Motiv, das von Künstlerinnen und Künstlern, die sich mit Mystik befassen, aufgegriffen wird. Häufig wird dabei die Darstellung verschiedener Buchstaben-Permutationen genutzt, die benötigt werden, um einen Golem zum Leben zu erwecken. Am weitesten verbreitet ist dabei die Methode, die mit drei hebräischen Buchstaben den Golem zu animieren versucht: Zusammen ergeben sie das Wort emet (אמת)– „Wahrheit“; entfernt man den einen Buchstaben, entsteht das Wort
Unabhängig von den spezifischen Methoden, verweisen diese Traditionen – und ihre modernen Interpretationen – auf einen Glauben an die schöpferische Kraft von Sprache.
Emily D. Bilski ist Kunsthistorikerin und arbeitet hauptsächlich über die Schnittstelle zwischen Kunst, Kulturgeschichte und jüdischer Erfahrung in der Moderne sowie über zeitgenössische Kunst. Sie arbeitet als Kuratorin und Beraterin von Museen in den USA, Europa und Israel. Für ihre Publikationen Berlin Metropolis: Jews and the New Culture: 1890-1910 (1999) und Jewish Women and Their Salons (2005) gewann sie jeweils den National Jewish Book Award.
Zitierempfehlung:
Emily D. Bilski (2016), Jüdische Mystik . Einleitung zu Kapitel 2 des Ausstellungskatalogs GOLEM.
URL: www.jmberlin.de/node/4685
Online-Ausgabe des Katalogs GOLEM: Inhaltsverzeichnis
- Einstiegsseite
- Der Golem in Berlin – Einleitung von Peter Schäfer
- Kapitel 1
- Der Golem lebt – Einführung von Martina Lüdicke
- My Light is Your Life – von Anna Dorothea Ludewig
- Avatare – von Louisa Hall
- Das Geheimnis des Cyborg – von Caspar Battegay
- Kapitel 2
- Aktuelle Seite: Jüdische Mystik – Einführung von Emily D. Bilski
- Golem-Zauber – von Martina Lüdicke
- Golem, Sprache, Dada – von Emily D. Bilski
- Kapitel 3
- Verwandlung – Einführung von Emily D. Bilski
- Figur-Grund. Jana Sterbaks Golem: Objects as Sensations – von Rita Kersting
- Crisálidas (Schmetterlingspuppen) – von Jorge Gil
- Rituale – von Christopher Lyon
- Der Golem, der ein gutes Ende nahm – von Emily D. Bilski
- Über den Golem – von David Musgrave
- Louise Fishmans Farb-Golem – von Emily D. Bilski
- Kapitel 4
- Mythos Prag – Einführung von Martina Lüdicke
- Golem-Variationen – von Peter Schäfer
- Rabbi Loews wohlverdientes Bad – von Harold Gabriel Weisz Carrington
- Kapitel 5
- Horror und Magie – Einführung von Martina Lüdicke
- Golem und ein kleines Mädchen – von Helene Wecker
- Der Golem mit tanzender Kinderschar – von Karin Harrasser
- Die Belebung der Filmkulisse – von Anna-Carolin Augustin
- Der Golem und Mirjam – von Cathy S. Gelbin
- Kapitel 6
- Außer Kontrolle – Einführung von Emily D. Bilski
- Mit glühendem Hammer erweckter Mann – von Arno Pařík
- Gefährliche Symbole – von Charlotta Kotik
- Gib acht, was du dir wünschst – von Marc Estrin
- Kapitel 7
- Doppelgänger – Einführung von Martina Lüdicke
- Aus dem Golem-Talmud – von Joshua Cohen
- Kitajs Kunst-Golem – von Tracy Bartley
- Der Golem als Techno-Imagination – von Cosima Wagner
- Siehe auch
- GOLEM – 2016, Online-Ausgabe mit ausgewählten Texten des Katalogs zur GOLEM-Ausstellung
- GOLEM – 2016, Printversion des Katalogs zur GOLEM-Ausstellung
- Der Golem. Von Mystik bis Minecraft – Online Feature, 2016
- GOLEM – Ausstellung , 23. Sep 2016 bis 29. Jan 2017