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Golem-Variationen

Beitrag im Ausstellungskatalog GOLEM

Peter Schäfer

Buchstaben, überall hebräische Buchstaben. Sie fliegen aus einem brennenden Buch, aus der hebräischen Uhr des jüdischen Rathauses in Prag, und aus den zehn Sefirot, den geheimen Kräften des körperlosen Gottes.

Nach der jüdischen Tradition enthält ein Buch der Schöpfung genanntes Handbuch den Bauplan Gottes für die Erschaffung seiner Welt. Dieser Bauplan besteht aus den zehn Zahlen von eins bis zehn – die im Hebräischen auch durch Buchstaben wiedergegeben werden – und den 22 Buchstaben des hebräischen Alphabets. Besonders potent sind die Buchstaben des Tetragramms, des aus vier Konsonanten bestehenden Gottesnamens (JHWH), der nicht ausgesprochen werden kann. Gott benutzte diese Buchstaben, kombinierte sie in einem komplizierten Verfahren miteinander, und schuf daraus die Welt. Jeder, so sagt das Buch der Schöpfung, der die Buchstaben und die Kombinationsmöglichkeiten kennt, kann Gott imitieren und ebenfalls eine Welt erschaffen – oder auch nur einen Menschen, einen Golem.

Der jüdische Gott ist in seinem innersten Wesen unfassbar und unerkennbar. Er hat sich aber, in einem ersten Schöpfungsakt, in seinen zehn innergöttlichen Kräften oder Potenzen entfaltet. Diese Potenzen kommunizieren in einem dynamischen Austausch miteinander und initiieren schließlich, in mehreren Stufen, die Erschaffung der außergöttlichen Welten bis hin zur irdischen Welt des Menschen. Podwals Gott besteht selbst aus Buchstaben und konfiguriert sich als Golem – als noch unentfalteter Gott, der zu seiner eigenen Vollendung der irdischen Welt und des Menschen bedarf.

Tintenzeichnung aus hebräischen Schriftzeichen und geometrischen Formen.

Combining Letters
Mark Podwal, New York, 1982
Tinte auf Papier, 43,2 x 35,6 cm
Aus: Zeichnungen zu „Das Geheimnis des Golem“ von Elie Wiesel
Courtesy of the artist.

Das spätbarocke jüdische Rathaus in Prag hat zwei Uhren, eine Uhr am Glockenturm mit den üblichen römischen Zahlen auf dem Ziffernblatt und darunter am Giebel eine weitere mit hebräischen Buchstaben als Zahlen auf dem Ziffernblatt. Die Zeiger dieser Uhr drehen sich – gegen den Uhrzeigersinn, aber entsprechend dem Duktus der hebräischen Schrift – von rechts nach links. Doch diese Uhr berechnet nicht nur die Zeit: die Buchstaben lösen sich aus ihr wie ein Bienenschwarm und erschaffen den Prager Golem, den Retter der Juden.

Tintenzeichnung „The Dream of Rabbi Loew“ von Mark Podwal: Eine Figur aus hebräischen Buchstaben fliegt aus der Rathausuhr von Prag.

The Dream of Rabbi Loew
Mark Podwal, New York, 1982
Tinte auf Papier, 35,4 x 28,2 cm
Aus: Zeichnungen zu „Das Geheimnis des Golem“ von Elie Wiesel
Courtesy of the artist.

Das „Buch der Schöpfung“ brennt, angezündet vom Judenhass der Christen. Aber es verbrennt nicht, kann nicht verbrannt werden. Die schöpfungsmächtigen Buchstaben fliegen im Feuer und Rauch davon. Kehren sie zu Gott, ihrem Ursprung, zurück? Oder werden sie an einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit neues jüdisches Leben erschaffen?

Peter Schäfer wurde zum 1. September 2014 zum neuen Direktor der Stiftung Jüdisches Museum Berlin berufen, nachdem er von 1998 bis 2013 als Perelman Professor of Jewish Studies und Professor of Religion an der Princeton University gelehrt hat. Er ist einer der international angesehensten Judaisten unserer Zeit und Träger des Leibniz-Preises, des Mellon-Award, des Ruhr-Preises für Kunst und Wissenschaft, des Leopold Lucas-Preises sowie des Reuchlin-Preises.

Zeichnung von Mark Podwal: Aus zwei brennenden Büchern fliegen hebräische Buchstaben.

Burning Books
Mark Podwal, New York, 1982
Tinte auf Papier, 43,2 x 35,6 cm
Aus: Zeichnungen zu „Das Geheimnis des Golem“ von Elie Wiesel
Courtesy of the artist.

Zitierempfehlung:

Peter Schäfer (2016), Golem-Variationen . Beitrag im Ausstellungskatalog GOLEM.
URL: www.jmberlin.de/node/4703

Golem als Actionfigur (Ausschnitt)

Online-Ausgabe des Katalogs GOLEM: Inhaltsverzeichnis

Einstiegsseite
Der Golem in Berlin – Einleitung von Peter Schäfer
Kapitel 1
Der Golem lebt – Einführung von Martina Lüdicke
My Light is Your Life – von Anna Dorothea Ludewig
Avatare – von Louisa Hall
Das Geheimnis des Cyborg – von Caspar Battegay
Kapitel 2
Jüdische Mystik – Einführung von Emily D. Bilski
Golem-Zauber – von Martina Lüdicke
Golem, Sprache, Dada – von Emily D. Bilski
Kapitel 3
Verwandlung – Einführung von Emily D. Bilski
Figur-Grund. Jana Sterbaks Golem: Objects as Sensations – von Rita Kersting
Crisálidas (Schmetterlingspuppen) – von Jorge Gil
Rituale – von Christopher Lyon
Der Golem, der ein gutes Ende nahm – von Emily D. Bilski
Über den Golem – von David Musgrave
Louise Fishmans Farb-Golem – von Emily D. Bilski
Kapitel 4
Mythos Prag – Einführung von Martina Lüdicke
Aktuelle Seite: Golem-Variationen – von Peter Schäfer
Rabbi Loews wohlverdientes Bad – von Harold Gabriel Weisz Carrington
Kapitel 5
Horror und Magie – Einführung von Martina Lüdicke
Golem und ein kleines Mädchen – von Helene Wecker
Der Golem mit tanzender Kinderschar – von Karin Harrasser
Die Belebung der Filmkulisse – von Anna-Carolin Augustin
Der Golem und Mirjam – von Cathy S. Gelbin
Kapitel 6
Außer Kontrolle – Einführung von Emily D. Bilski
Mit glühendem Hammer erweckter Mann – von Arno Pařík
Gefährliche Symbole – von Charlotta Kotik
Gib acht, was du dir wünschst – von Marc Estrin
Kapitel 7
Doppelgänger – Einführung von Martina Lüdicke
Aus dem Golem-Talmud – von Joshua Cohen
Kitajs Kunst-Golem – von Tracy Bartley
Der Golem als Techno-Imagination – von Cosima Wagner
Siehe auch
GOLEM – 2016, Online-Ausgabe mit ausgewählten Texten des Katalogs zur GOLEM-Ausstellung
GOLEM – 2016, Printversion des Katalogs zur GOLEM-Ausstellung
Der Golem. Von Mystik bis Minecraft – Online Feature, 2016
GOLEM – Ausstellung , 23. Sep 2016 bis 29. Jan 2017

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