Golem-Zauber
Beitrag im Ausstellungskatalog GOLEM
Martina Lüdicke
Wie kann man ein Ritual der jüdischen Mystik, das Erschaffen eines künstlichen Wesens und seine Belebung mithilfe von Buchstaben des Gottesnamens, in einem Kunstwerk einfangen? Dem Künstler David Aronson ist mit seinem Gemälde etwas Einzigartiges gelungen: die Transzendenz, Dynamik und Intensität der mystischen Erfahrung in eine künstlerische Form zu bringen, ohne deren Rätsel und Geheimnisse aufzulösen.
Die mittelalterlichen Kabbalisten erschufen Golems mit dem Ziel, sich Gott anzunähern. Der Prozess stand im Zentrum der Handlung, nicht das Geschöpf selbst. Dieser Vorstellung hat Aronson in einem verdichteten Raum voller Requisiten Leben eingehaucht. Da schwebt eine Figur, wahrscheinlich Rabbi Loew, entrückt über dem liegenden Golem. Drei Zauber-Gehilfen tragen Amulette um den Hals. Vor ihnen liegt der verzerrte Golem in einer Kiste, man sieht der Gestalt den Prozess ihrer Schöpfung noch deutlich an. Die Füße wirken grotesk vergrößert. Über dem Golem hat ein Papagei seine bunten Flügel ausgebreitet. Eine Anspielung auf die Fähigkeit des Papageis, den Kern des Menschseins, die Sprache, nachzuahmen? Oder auf die Taube als Symbol göttlicher Präsenz in der christlichen Kunst? Alle menschlichen Figuren dieser Szene sind umrahmt von verschlüsselten Botschaften: Skizzen, Buchstabenfragmente, eine zerrissene Vogelzeichnung. Die Szene ist stark komprimiert, ein Augenblick nur, in dem der Golem lebendig wird. Auch der Machart des Gemäldes kommt eine besondere Bedeutung zu: Die Enkaustik, eine antike Maltechnik mit einer Mischung von Farbpigmenten und Heißwachs, entfaltet eine eigentümliche Leuchtkraft und eine dreidimensionale Textur, die dem Betrachter die Prozesshaftigkeit des Werkes vor Augen führt. Über die Möglichkeiten der Enkaustik sagte Aronson selbst: „Hier fand ich eine bedeutungsstarke Verbindung von Technik und Botschaft. Die leuchtenden, wachsartigen Farben gaben dem Schaffensprozess eine tiefreligiöse Bedeutung, wie das Glasfenster in einer Kirche, das dich in einen anderen Bewusstseinszustand versetzt.“ Der schöpferische Akt verbindet sich mit der Praxis der mittelalterlichen Kabbalisten. Ein Golem entsteht. Aus Buchstabenkombinationen oder aus Pinselstrichen.
Martina Lüdicke ist Literaturwissenschaftlerin und Ausstellungskuratorin am Jüdischen Museum Berlin. Als Kuratorin arbeitete sie an den Sonderausstellungen „Weihnukka“, „Heimatkunde“, „Die ganze Wahrheit... was Sie schon immer über Juden wissen wollten“ und „Haut ab! Haltungen zur rituellen Beschneidung“.
Zitierempfehlung:
Martina Lüdicke (2016), Golem-Zauber . Beitrag im Ausstellungskatalog GOLEM.
URL: www.jmberlin.de/node/4687
Online-Ausgabe des Katalogs GOLEM: Inhaltsverzeichnis
- Einstiegsseite
- Der Golem in Berlin – Einleitung von Peter Schäfer
- Kapitel 1
- Der Golem lebt – Einführung von Martina Lüdicke
- My Light is Your Life – von Anna Dorothea Ludewig
- Avatare – von Louisa Hall
- Das Geheimnis des Cyborg – von Caspar Battegay
- Kapitel 2
- Jüdische Mystik – Einführung von Emily D. Bilski
- Aktuelle Seite: Golem-Zauber – von Martina Lüdicke
- Golem, Sprache, Dada – von Emily D. Bilski
- Kapitel 3
- Verwandlung – Einführung von Emily D. Bilski
- Figur-Grund. Jana Sterbaks Golem: Objects as Sensations – von Rita Kersting
- Crisálidas (Schmetterlingspuppen) – von Jorge Gil
- Rituale – von Christopher Lyon
- Der Golem, der ein gutes Ende nahm – von Emily D. Bilski
- Über den Golem – von David Musgrave
- Louise Fishmans Farb-Golem – von Emily D. Bilski
- Kapitel 4
- Mythos Prag – Einführung von Martina Lüdicke
- Golem-Variationen – von Peter Schäfer
- Rabbi Loews wohlverdientes Bad – von Harold Gabriel Weisz Carrington
- Kapitel 5
- Horror und Magie – Einführung von Martina Lüdicke
- Golem und ein kleines Mädchen – von Helene Wecker
- Der Golem mit tanzender Kinderschar – von Karin Harrasser
- Die Belebung der Filmkulisse – von Anna-Carolin Augustin
- Der Golem und Mirjam – von Cathy S. Gelbin
- Kapitel 6
- Außer Kontrolle – Einführung von Emily D. Bilski
- Mit glühendem Hammer erweckter Mann – von Arno Pařík
- Gefährliche Symbole – von Charlotta Kotik
- Gib acht, was du dir wünschst – von Marc Estrin
- Kapitel 7
- Doppelgänger – Einführung von Martina Lüdicke
- Aus dem Golem-Talmud – von Joshua Cohen
- Kitajs Kunst-Golem – von Tracy Bartley
- Der Golem als Techno-Imagination – von Cosima Wagner
- Siehe auch
- GOLEM – 2016, Online-Ausgabe mit ausgewählten Texten des Katalogs zur GOLEM-Ausstellung
- GOLEM – 2016, Printversion des Katalogs zur GOLEM-Ausstellung
- Der Golem. Von Mystik bis Minecraft – Online Feature, 2016
- GOLEM – Ausstellung , 23. Sep 2016 bis 29. Jan 2017