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Avatare

Beitrag im Ausstellungskatalog GOLEM

Louisa Hall

In 50 Jahren, so verheißen uns Fachleute der Animationstechnik und der künstlichen Intelligenz, werden unsere Computer imstande sein, uns als Avatare weiterleben zu lassen, wenn wir tot sind. Mittels Animation und Stimmerkennung können Freunde und Angehörige dann lebensechte digitale Versionen von uns erschaffen, denen sie unseren besonderen Geist einhauchen. Dazu bedienen sie sich eines komplizierten Zaubers, zu dessen Bestandteilen unsere Online-Kommunikation, hochgeladene Fotos, Kundenkonten und GPS-Daten zählen. Angefüllt mit Aufzeichnungen über unsere Erlebnisse und Beziehungen werden die dreidimensionalen Wiedergänger unseren überlebenden Freunden und Verwandten in sozialen Netzwerken zur Verfügung stehen. Und sobald die Software es ihnen erlaubt, aus Bildern dieser Freunde und Verwandten auf deren Gemütszustände zu schließen, werden unsere Avatare imstande sein, die Verbindung zu unseren Liebsten zu halten, über ihr Leben auf dem Laufenden zu bleiben und sich über unseren Tod hinaus zusammen mit ihnen weiterzuentwickeln.

Schon heute wirkt so ein Szenario nicht mehr weit hergeholt. Wir behalten die Facebook-Accounts unserer verstorbenen Liebsten und wärmen alte Gefühle auf, indem wir im Netz Freunden und Ex-Partnern nachspüren, mit denen wir längst nicht mehr reden. Zum Teil bauen wir unsere eigene Web-Präsenz zu ebendiesem Zweck auf. Um im Gedächtnis unserer Freunde am Leben zu bleiben, sind wir nicht mehr auf deren unzuverlässige Erinnerungen angewiesen. Jedes Mal, wenn wir ein Foto auf Instagram hochladen oder unserem Telefon erlauben, unseren Standort zu speichern, tragen wir etwas bei zu unserem Online-Leben nach dem Tod. Jeder Facebook-Post haucht den Golems, die wir aus den Geräten in unserer Tasche gemacht haben, ein wenig mehr Leben ein.

Sie sind unsere Beschützer vor der totalen Zerstörung, unsere Garantie gegen das Ende – wenn wir bloß die Bilder richtig arrangieren, wenn wir bloß darauf achten, den festgehaltenen Erlebnissen einen treffenden Namen zu geben.

Den Drang, unseren Geist in einem Körper außerhalb unserer selbst zu aufzubewahren, hat es immer gegeben. Er treibt uns dazu, Bücher zu schreiben und Kunst zu schaffen. Oder auch Golems. Manchmal entscheiden wir uns für Körper aus Lehm, manchmal für Körper aus Papier – und heute zunehmend für die Körper unserer Telefone und Computer. Auch diese Avatare haben schon ihre eigene Macht entwickelt: Sie verändern uns, machen uns abhängig, stehlen sich mit unseren Erinnerungen davon, nehmen unseren Platz ein im Kopf der Menschen, die uns nahestehen.

Louisa Hall wuchs in Philadelphia auf. Sie promovierte in Literaturwissenschaften an der University of Texas in Austin, wo sie heute Literatur und Kreatives Schreiben unterrichtet. Sie ist die Autorin der Romane Speak und The Carriage House; ihre Gedichte wurden unter anderem in den Zeitschriften New Republic, Southwest Review und Ellipsis veröffentlicht.

Auf einem Bürgersteig gehen sich eine junge Frau und ein Mann entgegen, beide blicken auf ihre Smartphones.

People walk on a sidewalk in Manhattan both holding smartphones in their hands.
Michael Kowalczyk, New York, 2015
Fotografie

Zitierempfehlung:

Louisa Hall (2016), Avatare. Beitrag im Ausstellungskatalog GOLEM.
URL: www.jmberlin.de/node/4689

Golem als Actionfigur (Ausschnitt)

Online-Ausgabe des Katalogs GOLEM: Inhaltsverzeichnis

Einstiegsseite
Der Golem in Berlin – Einleitung von Peter Schäfer
Kapitel 1
Der Golem lebt – Einführung von Martina Lüdicke
My Light is Your Life – von Anna Dorothea Ludewig
Aktuelle Seite: Avatare – von Louisa Hall
Das Geheimnis des Cyborg – von Caspar Battegay
Kapitel 2
Jüdische Mystik – Einführung von Emily D. Bilski
Golem-Zauber – von Martina Lüdicke
Golem, Sprache, Dada – von Emily D. Bilski
Kapitel 3
Verwandlung – Einführung von Emily D. Bilski
Figur-Grund. Jana Sterbaks Golem: Objects as Sensations – von Rita Kersting
Crisálidas (Schmetterlingspuppen) – von Jorge Gil
Rituale – von Christopher Lyon
Der Golem, der ein gutes Ende nahm – von Emily D. Bilski
Über den Golem – von David Musgrave
Louise Fishmans Farb-Golem – von Emily D. Bilski
Kapitel 4
Mythos Prag – Einführung von Martina Lüdicke
Golem-Variationen – von Peter Schäfer
Rabbi Loews wohlverdientes Bad – von Harold Gabriel Weisz Carrington
Kapitel 5
Horror und Magie – Einführung von Martina Lüdicke
Golem und ein kleines Mädchen – von Helene Wecker
Der Golem mit tanzender Kinderschar – von Karin Harrasser
Die Belebung der Filmkulisse – von Anna-Carolin Augustin
Der Golem und Mirjam – von Cathy S. Gelbin
Kapitel 6
Außer Kontrolle – Einführung von Emily D. Bilski
Mit glühendem Hammer erweckter Mann – von Arno Pařík
Gefährliche Symbole – von Charlotta Kotik
Gib acht, was du dir wünschst – von Marc Estrin
Kapitel 7
Doppelgänger – Einführung von Martina Lüdicke
Aus dem Golem-Talmud – von Joshua Cohen
Kitajs Kunst-Golem – von Tracy Bartley
Der Golem als Techno-Imagination – von Cosima Wagner
Siehe auch
GOLEM – 2016, Online-Ausgabe mit ausgewählten Texten des Katalogs zur GOLEM-Ausstellung
GOLEM – 2016, Printversion des Katalogs zur GOLEM-Ausstellung
Der Golem. Von Mystik bis Minecraft – Online Feature, 2016
GOLEM – Ausstellung , 23. Sep 2016 bis 29. Jan 2017

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