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Mythos Prag

Einleitung zu Kapitel 4 des Ausstellungskatalogs GOLEM

Martina Lüdicke

Rabbi Judah Loew ben Bezalel, der Maharal von Prag, war ein bedeutender Denker und Gelehrter seiner Zeit, hat aber vermutlich nie einen Golem erschaffen. Die Geschichte um ihn und seinen seelenlosen Gehilfen schrieb man Loew erst 200 Jahre nach seinem Tod zu. Rabbi Loew lebte im Prag des 16. Jahrhunderts, zur Zeit der Herrschaft von Rudolf II., einem vielseitig interessierten Förderer von Kunst und Wissenschaft. Rudolf II. hatte seine Residenz von Wien nach Prag verlegt und pflegte engen Kontakt zu Astronomen, Mathematikern, Kunsthandwerkern und Malern, sein besonderes Interesse galt auch der jüdischen Mystik. Zeugnis dieser Ideenwelt ist Rudolfs Kunst- und Wunderkammer mit Sammlungsstücken verschiedenster Art und aus aller Welt. Die Atmosphäre der Zeit, inspiriert von Magischem und Okkultem, von Alchemie und Astronomie, diente als ideale Projektionsfläche für die Konstruktion der Legende um den Golem von Prag. Mit keinem anderen Schauplatz ist die Golem-Geschichte enger verknüpft. Kein Golem-Schöpfer wurde berühmter als Rabbi Loew.

Anfang des 19. Jahrhunderts entwickelte sich die Prager Golem-Legende zu einem schillernden literarischen Motiv und zog die Aufmerksamkeit jüdischer und nichtjüdischer Autoren wie Berthold Auerbach, Leopold Weisel, Achim von Arnim oder E.T.A. Hoffmann auf sich. Doch erst Gustav Meyrinks Roman von 1915 machte den Golem-Mythos einem Massenpublikum bekannt. Das Buch wurde zu einem Klassiker der phantastischen Literatur im deutschsprachigen Raum. „Wer kann sagen, daß er über den Golem etwas wisse? … Man verweist ihn ins Reich der Sage, bis sich eines Tages in den Gassen ein Ereignis vollzieht, das ihn plötzlich wieder aufleben läßt. Und eine Zeitlang spricht dann jeder von ihm, und die Gerüchte wachsen ins Ungeheuerliche.“ Die düster-magische Atmosphäre des Romans illustrierte Hugo Steiner-Prag mit seinem Lithographie-Zyklus Der Golem – Prager Phantasien. Steiner-Prags Golem ist kein grober Riese, der mit seiner Unbeholfenheit Zerstörung anrichtet. Seine Bedrohlichkeit entsteht, wie bei Meyrink, in der Überblendung von Traumsequenz, Gespenstergeschichte und Kriminalroman – der Golem als beklemmendes Phantom, das die Hauptfigur des Romans in tiefe Verwirrung stürzt. Damit prägte Steiner-Prag das Bild einer flüchtigen, geisterhaften Golem-Gestalt, die durch die verwinkelten Gassen Prags huscht, beinahe so, als würden Stadt und Golem zu einer einzigen unheimlichen Figur verschmelzen. Der Prager Golem-Mythos aber schreibt sich bis heute fort: in den Schaufenstern der Josephstadt mit ihren Souvenir-Figuren, an mythischen Orten wie dem Grab von Rabbi Loew oder mit dem Gerücht, dass sich die Überreste des Golem noch immer in der nicht zugänglichen Dachkammer der Prager Altneuschul-Synagoge befinden. Die Legende lebt.

Martina Lüdicke ist Literaturwissenschaftlerin und Ausstellungskuratorin am Jüdischen Museum Berlin. Als Kuratorin arbeitete sie an den Ausstellungen Weihnukka, Heimatkunde, Die ganze Wahrheit... was Sie schon immer über Juden wissen wollten und Haut ab! haltungen zur rituellen Beschneidung.

Zitierempfehlung:

Martina Lüdicke (2016), Mythos Prag. Einleitung zu Kapitel 4 des Ausstellungskatalogs GOLEM.
URL: www.jmberlin.de/node/4698

Golem als Actionfigur (Ausschnitt)

Online-Ausgabe des Katalogs GOLEM: Inhaltsverzeichnis

Der Golem in Berlin – Einleitung von Peter Schäfer
Kapitel 1
Der Golem lebt – Einführung von Martina Lüdicke
My Light is Your Life – von Anna Dorothea Ludewig
Avatare – von Louisa Hall
Das Geheimnis des Cyborg – von Caspar Battegay
Kapitel 2
Jüdische Mystik – Einführung von Emily D. Bilski
Golem-Zauber – von Martina Lüdicke
Golem, Sprache, Dada – von Emily D. Bilski
Kapitel 3
Verwandlung – Einführung von Emily D. Bilski
Figur-Grund. Jana Sterbaks Golem: Objects as Sensations – von Rita Kersting
Crisálidas (Schmetterlingspuppen) – von Jorge Gil
Rituale – von Christopher Lyon
Der Golem, der ein gutes Ende nahm – von Emily D. Bilski
Über den Golem – von David Musgrave
Louise Fishmans Farb-Golem – von Emily D. Bilski
Kapitel 4
Aktuelle Seite: Mythos Prag – Einführung von Martina Lüdicke
Golem-Variationen – von Peter Schäfer
Rabbi Loews wohlverdientes Bad – von Harold Gabriel Weisz Carrington
Kapitel 5
Horror und Magie – Einführung von Martina Lüdicke
Golem und ein kleines Mädchen – von Helene Wecker
Der Golem mit tanzender Kinderschar – von Karin Harrasser
Die Belebung der Filmkulisse – von Anna-Carolin Augustin
Der Golem und Mirjam – von Cathy S. Gelbin
Kapitel 6
Außer Kontrolle – Einführung von Emily D. Bilski
Mit glühendem Hammer erweckter Mann – von Arno Pařík
Gefährliche Symbole – von Charlotta Kotik
Gib acht, was du dir wünschst – von Marc Estrin
Kapitel 7
Doppelgänger – Einführung von Martina Lüdicke
Aus dem Golem-Talmud – von Joshua Cohen
Kitajs Kunst-Golem – von Tracy Bartley
Der Golem als Techno-Imagination – von Cosima Wagner
Siehe auch
GOLEM – 2016, Online-Ausgabe mit ausgewählten Texten des Katalogs zur GOLEM-Ausstellung
GOLEM – 2016, Printversion des Katalogs zur GOLEM-Ausstellung
Der Golem. Von Mystik bis Minecraft – Online Feature, 2016
GOLEM – Ausstellung , 23. Sep 2016 bis 29. Jan 2017

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