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KOLOT – קולות – Stimmen

Perspektiven auf den 7. Oktober (mit Video-Mitschnitt)

Das Massaker am 7. Oktober 2023 bedeutet für die israelische und jüdische Gemein­schaft weltweit eine tiefe Zäsur. Das Projekt KOLOT hat einige Stimmen aus der Community dokumentiert und in Form von narrativen Video­interviews auf­gezeichnet. Ein Jahr nach dem Angriff stellte KOLOT erstmals Aus­schnitte dieser Interviews vor. 
 

Mitschnitt verfügbar

Übersichtsplan mit allen Gebäuden, die zum Jüdischen Museum Berlin gehören. Die W. M. Blumenthal Akademie ist grün markiert

Wo

W. M. Blumenthal Akademie,
Klaus Mangold Auditorium
Fromet-und-Moses-Mendelssohn-Platz 1, 10969 Berlin
(gegenüber dem Museum)

Video-Mitschnitt vom 9. Okt 2024; OFEK e.V.

Rede von Hetty Berg, Direktorin des JMB, bei der Veranstaltung

Sehr geehrte, liebe Marina Chernivsky,
sehr geehrte Ruthe Zuntz, sehr geehrte Erica Zingher, sehr geehrte Lea Wohl von Haselberg, sehr geehrter Kurt Grünberg und sehr geehrter Dimitrij Kapitelman,
sehr geehrte Damen und Herren, liebe Gäste von OFEK und dem Jüdisches Museum Berlin,

ich möchte Sie sehr herzlich in der W. Michael Blumenthal Akademie des Jüdischen Museums Berlin begrüßen.

Es bedeutet mir viel, dass wir als Gastgeberin und Kooperations­partnerin mit OFEK e.V. diesen Abend aus­richten können.

Es ist oft gesagt und geschrieben worden, dass der 7. Oktober 2023 ein Datum sei, das eine Zäsur markiere. Das ist richtig und gilt auch für das Leben der Jüdinnen und Juden in Deutschland, für das Jüdische Museum Berlin als Institution und für die Mit­arbeiter*innen des Museums. Mit Trauer und Ent­setzen verfolgen wir seit dem Massaker der Hamas die Gewalt im Nahen Osten. Der 7. Oktober ist eine Zäsur – und gleich­zeitig eine Fort­setzung. Leid, Unsicher­heit und Er­schütterung wachsen weiter. Unsere Gedanken sind bei den Geiseln der Hamas, die heute bereits unvorstell­bare 367 Tage in der Hand von Terroristen sind. Wir denken an ihre Familien und alle Menschen in der Region, die unver­schuldet unter der aktuellen Situation leiden. Eine Lösung ist nicht in Sicht.

Der heutige Abend ist dem Gedenken des 7. Oktobers gewidmet.

Wir werden Aus­schnitte aus ver­schiedenen Video­interviews aus dem Projekt KOLOT sehen, die nach dem Angriff der Hamas auf Israel mit Menschen aus jüdischen und israelischen Communities in Deutschland geführt und aufge­zeichnet worden sind – Marina Chernivsky wird gleich mehr dazu sagen. Diese Ausschnitte sind Moment­aufnahmen, denen – über ihren jeweiligen Inhalt hinaus – ein eigener Wert als persönliche Zeug­nisse eben dieses Moments der Erinnerung, des Rück­blicks und der Reflexion zukommt.

Und sie können uns helfen, diesen Moment und den jeweils individuellen Blick darauf zu ver­stehen. Als Teil der Ko­operation mit OFEK e.V. gehen diese Video­interviews in unsere Sammlung im Jüdischen Museum Berlin ein, worüber wir uns sehr freuen.

Ich zitiere Primo Levi, Das Erinnern der Wunde, erschienen 1986:

„Die menschliche Erinnerung ist ein wunder­bares, aber unzu­verlässiges Instrument. Das ist eine abge­droschene Wahr­heit, die nicht nur den Psychologen, sondern auch jedem bekannt ist, der sein Augen­merk auf das Ver­halten seiner Umgebung oder sein eigenes gerichtet hat. Die in uns schlum­mernden Erinnerungen sind nicht in Stein gemeißelt; sie zeigen nicht nur die Neigung, sich mit den Jahren zu ver­flüchtigen, oft ver­ändern sie sich oder werden sogar umfang­reicher, wobei sie fremd­bestimmte Züge annehmen.“

Levi zu lesen, ist immer lohnens­wert. In diesem Fall helfen uns seine Reflexionen, wenn wir über unsere Erinnerungen nach­denken wollen: Inwiefern be­einflusst unsere eigene Geschichte unsere Identität, inwiefern schreiben wir diese Geschichte selbst, inwiefern be­einflussen andere unsere Geschichte und unseren Blick darauf? Was spart diese Geschichte aus, was verändert sich mit der Zeit, was kommt vielleicht sogar hinzu? Jede Handlung geschieht in einem Kontext, der sie be­einflusst. Das Wort „Kontext“ haben wir schon in den Wochen nach dem Terror­angriff oft gehört – und ver­schiedene Menschen haben sich dabei auf sehr unter­schiedliche Inhalte bezogen. Ich beziehe mich hier aber zunächst nur auf den theoretischen Begriff: Jede Äußerung ist zeitlich und räumlich verankert und voll­zieht sich ent­sprechend in einem komplexen Diskurs­raum, der sich nie voll­ständig um­reißen lässt, auch nicht aus einer zeit­lichen oder räum­lichen Distanz.

Primo Levi, ausge­bildeter Chemiker, gehört zu denen, die den Holocaust überlebt haben. Heute ist er als Schrift­steller im Gedächtnis, der nicht aufgehört hat, über den Massen­mord an den europäischen Jüdinnen und Juden nachzu­denken. Was hätte er wohl heute zu sagen – nach dem 7. Oktober? Und ein Jahr nach dem 7. Oktober 2023?

In Die Grauzone, ebenfalls erschienen 1986, schreibt Levi: 

„Sind wir, die wir überlebt haben, imstande gewesen, unsere Erfahrung zu verstehen und verständlich zu machen? Wenn wir „verstehen“ sagen, meinen wir damit im Allgemeinen „vereinfachen“: ohne tief­greifende Ver­einfachung wäre die uns umgebende Welt ein unendliches, undefiniertes Durch­einander, das unserer Orientierungs- und Handlungs­fähigkeit hohn­sprechen würde.“ 

Levi sieht die Not­wendig­keit der Ver­einfachung, damit wir handlungs­fähig bleiben und kommunizieren können. Aber er sieht gleich­zeitig eine Gefahr:

„Wir neigen dazu, auch die Geschichte zu vereinfachen […]. Jedenfalls ist unser Bedürfnis […], die Welt in „wir“ und „sie“ aufzu­teilen, dermaßen stark, dass dieses Schema einer Freund-Feind-Einteilung jedes andere über­lagert. Die […] Geschichts­betrachtung und die Geschichte, wie sie uns her­kömmlicher­weise in der Schule vermittelt wird, stehen unter dem Einfluss dieser […] Tendenz, die die Zwischen­töne scheut und der Komplexität aus dem Weg geht. […] Dieser Wunsch nach Ver­einfachung ist berechtigt, dagegen ist es die Ver­einfachung selbst nicht immer.“

Im JMB wollen wir uns der Komplexität der Welt, des Zusammen­lebens stellen. In Zeiten immer stärkerer Polari­sierungen ist es wichtig, dass es Orte gibt, an denen wir fundiert und offen diskutieren können. Dazu gehört es, eine Vielfalt von Perspektiven zu hören und vielleicht sogar nach­zuvoll­ziehen. Nur das ermöglicht einen differenzierten Umgang, besonders mit sensiblen Themen wie denen, die wir behandeln. Das JMB will Gesprächen Raum geben und Vielfalt ernst nehmen. Es geht darum, Spannungen nicht zu über­tünchen, sondern wahrzu­nehmen, sichtbar zu machen, zu erforschen, auszu­halten und zu verhandeln.

Die Erwartungs­haltung, jede und jeder müsse sich zu allem schnell und eindeutig positionieren, ist verbreitet. Aber sie nimmt uns die Zeit zum Nach­denken – und ver­hindert vielleicht sogar, uns einzu­fühlen in die Position des Gegen­übers. Wir müssen uns Zeit nehmen, einander zuzu­hören, wenn wir mit­einander sprechen. Und wir müssen darauf achten, welche Worte wir wählen, um nicht zu verletzen, welche Begriffe wir ver­wenden, um etwas treffend zu beschreiben, sie klar definieren, um nicht in die Falle derer zu tappen, die die Sprache für ihre Zwecke instrumenta­lisieren. Auch wenn in Deutschland kein Krieg herrscht – ganz ohne dass das unser Verdienst ist – so ist der Krieg in der Ukraine doch sehr nahe und der Krieg im Nahen Osten hat Aus­wirkungen auf das Leben in Deutschland.

Die Zahl anti­semitischer Vorfälle in Deutsch­land ist seit dem Terror­angriff der Hamas auf Israel sprung­haft gestiegen – andere Länder vermelden das ebenfalls. Anti­semitismus findet sich auch in der Mitte der Gesell­schaft. Das machen die Diskus­sionen deutlich, die seit dem 7.10.2023 laufen.

Viel historisches Wissen, von dem wir annahmen, es sei verbreitet, fehlt Teilen der Bevölkerung – und zwar quer durch die Generationen und unabhängig davon, ob jemand einge­wandert ist oder nicht.

Auch anti­semitische Gewalt ist nicht neu, aber vor fünf Jahren hätte ich das Ausmaß der Bedrohung, der Jüdinnen und Juden in Deutschland gegen­wärtig ausge­setzt sind, nicht für möglich gehalten. Die gesamte Gesellschaft ist beschädigt, wenn Angehörige von Minder­heiten sich nicht sicher fühlen.

Noch einmal zitiere ich Primo Levi, Die Grauzone:

„Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen: darin liegt der Kern dessen, was wir zu sagen haben.“

Hier liegt unsere Ver­antwortung als Zeit­genossen, als Bürger*innen in der Demokratie – und eine unserer Aufgaben als Jüdisches Museum Berlin: Wir müssen mit­einander sprechen – und einander genau zuhören.

Bevor ich das Wort an Marina Chernivsky von OFEK e.V., die Organisatorin dieses Abends, über­gebe, möchte ich noch einige Dankes­worte aus­sprechen.

Eine solche Veranstaltung braucht viele unter­stützende Köpfe und Hände. Natürlich stehen an erster Stelle Marina Chernivsky und ihr Team, die das Projekt „KOLOT – Stimmen. Perspektiven auf den 7. Oktober“, sowie den Abend heute und die Fach­tagung morgen konzipiert und um­gesetzt haben. Und ich danke dem Team des Jüdischen Museums Berlin, das die Ver­anstaltung begleitet hat.

In der anschließenden Diskussion gingen Expert*innen der Frage nach, wie diese Ereignisse unsere Gegen­warten prägen, welche Vergangen­heiten dadurch aufgerissen werden, und wie Zukunfts­entwürfe für jüdische und israelische Communities in Deutschland aus­sehen können. Zugleich erinnerte die Veran­staltung an den rechts-terroris­tischen Terror­anschlag in Halle am 9. Oktober 2019.

KOLOT ist ein Projekt von OFEK e. V. in Koope­ration mit dem Jüdischen Museum Berlin. Es wird ermöglicht durch die Förderung des Bundes­ministeriums des Inneren und für Heimat aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundes­tages.

Was, wann, wo?

  • WannMi, 9. Okt 2024, 18:30 Uhr
  • Wo W. M. Blumenthal Akademie,
    Klaus Mangold Auditorium
    Fromet-und-Moses-Mendelssohn-Platz 1, 10969 Berlin
    (gegenüber dem Museum)
    Zum Lageplan
  • Eintritt

    frei

  • Hinweis Das Abendprogramm ist der Auftakt des Fachtags „7. Oktober – Psychologische Folgen für jüdische und israelische Communities“. Weitere Informationen und Anmeldung unter: https://eveeno.com/282550838

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