In seiner ersten Einzelausstellung 1963 in London stellte R.B. Kitaj
»The Murder of Rosa Luxemburg« als historisches Gemälde vor. Das Bild zeigt – anders als der Titel suggeriert - nicht den Mord selbst, sondern den Moment, in dem der Leichnam ins Wasser geworfen wird. Der tote Körper scheint in der Mitte des Bildes zu schweben.
Im oberen Teil verweisen eine Germania-Darstellung und das Konterfei Helmuth Graf von Moltkes auf den historischen Kontext des Mordes: auf eine von Militarismus und Nationalismus geprägte Gesellschaft, die im Gefolge der Reichsgründung entstanden war.
Die Ehrendenkmäler im linken und unteren Teil des Bildes sind als historische Würdigung von Leben und Werk Rosa Luxemburgs einfügt.
Auf das Gemälde klebte Kitaj rechts oben ein Papier, auf dem er die Bildquellen seines Werkes erläuterte und aus einer Publikation über Rosa Luxemburg zitierte. Es handelt sich um den Bericht aus Paul Frölichs erster Biographie über Rosa Luxemburg:
»... Luxemburg [wurde] durch den Leutnant Vogel aus dem Hotel [Eden] geführt. Vor dem Tor erwartete sie der Soldat Runge, […] der von den Oberleutnants Vogel und Pflugk-Harttung den Befehl erhalten hatte, Rosa Luxemburg niederzuschlagen. Er zerschmetterte ihr mit zwei Kolbenhieben den Schädel. Die fast Leblose wurde auf ein Auto geworfen. Einige Offiziere sprangen auf. Einer schlug Rosa mit einem Kolben auf den Kopf. Der Oberleutnant Vogel tötete sie durch einen Schuß ins Gehirn. Der tote Körper wurde nach dem Tiergarten gefahren und dort von der Liechtensteinbrücke in den Landwehrkanal geworfen. Dort ist sie im Mai 1919 ans Land getrieben.«
Text zitiert aus der deutschen Erstausgabe Paul Frölich, Rosa Luxemburg. Gedanke und Tat, Editions Nouvelles Internationales, Paris 1939, S. 292 - Kitaj zitierte aus der englischen Übersetzung Paul Frölich, Rosa Luxemburg: Her Life and Work, Book Club Edition, Verlag Victor Gollancz, 1940, p. 333
In der Entstehungszeit dieses Gemäldes richtete sich Kitajs Interesse nicht auf Rosa Luxemburg allein, sondern auf Außenseiter und Revolutionäre im Allgemeinen.
»Mein Gemälde von Rosa Luxemburg war nicht so radikal wie sie selbst, aber radikal genug für einen Kunststudenten. Natürlich, Rosa war Kommunistin, und das war ich nie. Mein ganzes Leben lang bin ich ein amerikanischer Demokrat vom Schlag Franklin D. Roosevelts, Trumans, Kennedys, Clintons gewesen. Bloß hat das jüdische Kulturleben mit all seinen Katastrophen, seinem Glanz, seiner Gelehrsamkeit, seinen Ausflüchten und Kühnheiten mich und meine Kunst gesteuert wie einen aufgeregten Zombie oder Golem, der in echten Ärger hineinstolpert, wie es meine Juden so oft tun.
Meine erste Ausstellung und der Katalog dazu waren eine Art erster Schuss vor den Bug der malerischen Konventionen, wie es sich für einen jungen radikalen Künstler gehört. Rosa Luxemburg, Karl Popper, Edgar Wind, Aby Warburg, Isaac Babel, Gertrud Bing, Walter Kaufman, Karl Marx, Franz Kafka und andere jüdische Geister spukten durch meine Ausstellung und sind in jugendlicher Unersättlichkeit in meinem Katalog aufgezählt.
Die meisten Kritiker behandelten mich wie eine Maler-Version von T. S. Eliot oder sogar Ezra Pound. Keiner erwähnte das J-Wort. Nicht einmal ich selbst. Ich stand zwar kurz davor, doch wie fast alle jüdischen Künstler zielte ich auf einen universellen Anspruch ab.«
aus: R.B. Kitaj, Confessions of an old Jewish Painter, unveröffentlichte Autobiografie, R.B. Kitaj Estate
»›Rosa‹ war eine studentische Arbeit, begonnen am Royal College of Art
in London. Heute kommt mir das Bild naiv und reizlos vor. Es entstand
aus der Meditation über meine Großmütter. Zum Anlass hat es einen
historischen Mord, aber eigentlich geht es um den Mord an Juden, also um
das, was meine Großmütter nach Amerika trieb.
Großmutter Rose erscheint als verschleiertes Gespenst links oben im Bild, doch es ist Großmutter Helene, die das Vorbild für Rosa L. in meinem Leben war. Helenes zwei Schwestern wurden von den Deutschen oder Österreichern in denselben Lagern ermordet wie Kafkas drei Schwestern und wie vier von Freuds fünf Schwestern. Meine Großmutter war nicht politisch, aber Helene und Rosa sahen sich ähnlich, kleideten sich ähnlich. Helene trug diese langen schwarzen Röcke und Stiefel in Amerika, bis sie starb, und kam aus dem gleichen hoch gebildeten Milieu, dessen Glanz und Unheil heute Legende sind. Helene wurde in Wien geboren, im selben Jahr wie Picasso, im Jahr, als Disraeli starb und als Dreyfus ein unbekannter Hauptmann im französischen Generalstab war. Ich malte Rosa nicht, weil ich mich zu ihrer Revolution hingezogen fühlte. Dieser Gott hat mich nie enttäuscht, denn ich habe nie in seiner Kirche gebetet, aber das Gemälde enttäuscht mich. Es scheint mir misslungen, auch wenn ich nach wie vor von Zeit zu Zeit über seine Grundlagen nachdenke, als hätten diese Grundlagen noch ein wenig Leben in sich… Ich habe mich nie ganz von der sogenannten tränenreichen Sicht auf die jüdische Geschichte lösen können.«
aus: Kitaj Interviewed by Richard Morphet, in: Richard Morphet (Hrsg.), R.B. Kitaj: A Retrospective, Tate Gallery 1994
R.B. Kitaj über sein Gemälde »The Murder of Rosa Luxemburg« (Ausschnitte aus der Hörführung zur Ausstellung, Sprecher: Armin Köstler)