– Die Reichstagswahl von 1930
Kürzlich ging ich ein Findbuch zu einer Familiensammlung durch, die bereits seit vielen Jahren hier im Archiv ist. Ich wollte das Verzeichnis entsprechend des heutigen Standards überarbeiten. Die Sammlung umfasst Dokumente, Fotografien und Objekte zu den Familien Arzt und Bialostotzky. In dem 23-seitigen Findbuch war bei dem Berliner Likörfabrikanten Heinz Arzt (1866–1931) in der Kategorie »Korrespondenz« ein Brief einsortiert, zu dem aber weder Absender*in noch Adressat*in angegeben, geschweige denn der Inhalt des Briefes benannt war. Die äußerst knappe Information lautete: »Brief: handschriftlich, 14.09.1930.«
Ich ging also in das Archivdepot und holte das Dokument mit der Signatur 2001/219/28 aus dem Karton 451 heraus, um die Angaben zu vervollständigen. Plötzlich hielt ich ein spannendes Stück Zeitgeschichte in Händen. Denn der vermeintliche Brief entpuppte sich als kurzer Bericht zur Reichstagswahl vor 87 Jahren. Während ich die Handschrift zu entziffern versuche, ist die Lindenstraße draußen mit Wahlwerbung für die Bundestagswahl am 24. September 2017 zuplakatiert – abgesehen von einem kurzen Abschnitt direkt vor dem Museumsgebäude. In dem zweiseitigen Manuskript hielt der 64-jährige Heinz Arzt seine Beobachtungen am 14. September 1930 (am »Wahlsonntag Abends 8 Uhr«) fest. Er beschreibt seine Fahrt mit der Straßenbahn quer durch Berlin nach Hause in die Steinmetzstraße und fängt die damalige Stimmung ein.
»[Ich] quetsche mich mühselig in die überfüllte Bahn. Nämlich traut sich niemand heut auf die Straße, von wegen Unruhen. Britz ist rot, Tempelhof ist rot. Die dortigen Wahllokale, an denen die Bahn vorüberfährt, haben ihre Außenfront rot tapeziert. Die dort stehenden Plakatträger werben für Liste 4.« Damit war die Kommunistische Partei Deutschlands gemeint. Weiter geht die Fahrt. »Gen Steglitz aber ändern sich die Farben. Es wird gemischt. Der Himmel ist bedeckt, dick grau. Ebenso die Straßen. Dick grau bedeckt. Wer schafft das ganze Papier fort?«, fragt Arzt mit Blick auf all die Wahlplakate und die Flugblätter, die in den Straßen herumliegen. »Heut Nacht noch kommen die Wahlergebnisse heraus. Heut Nacht noch werden viele Straßenkehrer, viele rote Proletarier, die roten und schwarz-weiß-roten und schwarz-rot-goldenen, alle die Reklamezettel aller dieser 26 Parteien zusammen kehren zu einem großen Papierberg.«
Arzt gibt keinen Hinweis, ob und wenn ja welche Partei er selbst gewählt hat. Interessant an seiner Aufzählung ist aber, dass er zwar die Kommunist*innen (»rot«), die antirepublikanische Rechte, die sich die monarchistischen Reichsfarben »Schwarz-Weiß-Rot« auf die Fahnen schrieb, und die gemäßigten Parteien, die die Weimarer Republik stützten und mit »Schwarz-Rot-Gold« identifiziert wurden, erwähnt, nicht aber explizit die Nationalsozialisten. Entweder zählte er sie in das schwarz-weiß-rote Lager, da auch die Hakenkreuzfahne diese Farben aufwies, oder die NSDAP war in seinen Augen eine unbedeutende Splitterpartei. Schließlich hatte sie bei der vorangegangenen Reichstagswahl 1928 nur 2,6 % der Stimmen erzielt. Seine Beobachtungen schloss Heinz Arzt mit den Worten: »Und nächsten Sonntag denkt niemand mehr an die Wahl.«
Tatsächlich endete die Reichstagswahl 1930 mit einer katastrophalen Niederlage für die Demokratie. Seit der Auflösung des Reichstages und der Anordnung von Neuwahlen befand sich die Republik ohnehin bereits im Übergang in ein Präsidialregime, wodurch die Weimarer Republik von oben zerstört wurde. Nun folgte auch noch ein Erdrutschsieg der Nationalsozialisten. Sie erhielten 18,3 % der Stimmen und stellten fortan mit 107 Abgeordneten im neu gewählten Reichstag die zweitgrößte Fraktion. Die Reichstagswahl war keineswegs bereits eine Woche später vergessen, wie Arzt prognostiziert hatte, sondern folgenreich: Bei der konstituierenden Sitzung des Parlaments am 13. Oktober 1930 erschienen die Abgeordneten der NSDAP alle in brauner Parteiuniform und verstießen damit gegen das geltende Uniformverbot. Am selben Tag kam es in Berlin zu pogromartigen Ausschreitungen. Passant*innen wurden von SA-Leuten antisemitisch beschimpft und verprügelt, dem Kaufhaus Wertheim wurden die Schaufensterscheiben demoliert.
Heinz Arzt erlebte die nationalsozialistische Machtübernahme 1933 nicht mehr, denn er starb im März 1931.
Jörg Waßmer, Archiv, hofft auf eine hohe Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl und weitere Zufallsfunde im Archiv.