Ein kleines Fenster zur Geschichte
Eine neuerworbene Pessach-Haggada und ihre früheren Kreuzberger Besitzer*innen
Bald findet der erste Seder des Pessachfests statt. Jüdinnen*Juden in der ganzen Welt werden sich mit ihren Familien und Freund*innen an festlich gedeckten Tischen zusammenfinden und die jahrhundertalte Tradition des Lesens der Haggada aufleben lassen. Darin wird die Geschichte von der Befreiung der Israelit*innen aus der ägyptischen Knechtschaft nacherzählt und die festgelegte Ordnung des Abends vorgegeben.
Die neu erworbene Haggada
Vor kurzem fiel mir in einer Online-Auktion eine Haggada auf, die ich für einen kaum nennenswerten Betrag für die Sammlung des Jüdischen Museums erwerben konnte. Das 1848 in Rödelheim bei Frankfurt am Main gedruckte und unter dem Titel Erzählung von dem Auszuge Israels aus Egypten an den beiden ersten Pesach-Abenden veröffentlichte Buch beinhaltet den hebräischen Text der Haggada zusammen mit einer von Wolf Heidenheim angefertigten deutschen Übersetzung. Es ist die ca. zwanzigste Ausgabe seiner 1822/23 erstmals herausgebrachten Haggada, welche die deutsche Übersetzung in hebräischen Lettern wiedergab. In diesem Fall aber verwendet er, wie erstmals 1839, lateinische Buchstaben.
Am Druck unserer Ausgabe der Haggada ist nichts Bemerkenswertes. Sie ist bar jeglicher Abbildungen, die so viele Haggadot sonst enthalten und derentwegen zahlreiche Menschen eine eigene Sammlung angelegt haben. Sie weist keine ausgefallene Typografie auf, bietet keinerlei Kommentare oder sonstige Besonderheiten. Das Buch ist nicht einmal ganz vollständig, denn es fehlen die letzten 15 Seiten. Nein, das Fesselnde an unserer Haggada liegt nicht in ihrer Ausstattung.
Handschriftliche Eintragungen
Es sind vielmehr die handschriftlichen Eintragungen, die sich auf den beiden Umschlaginnenseiten befinden. Denn hier sind die Namen von Personen verzeichnet, die acht Seder-Abenden zwischen 1886 und 1904 beigewohnt haben. Nun wird mit Sicherheit das Vorhandensein solcher Listen keine absolute Ausnahmeerscheinung sein, auch wenn diese Haggada die einzige im Bestand des Museums ist, in der solche Eintragungen zum Vorschein kommen. Für uns von besonderem Interesse ist jedoch die Tatsache, dass die hier genannten Personen das Pessachfest in der unmittelbaren Nähe des Museums gefeiert haben, nämlich am Halleschen Ufer und in der Hedemannstraße.
Recherchen zu den erwähnten Personen
Durch Recherchen und mit Unterstützung meiner Kollegin Barbara Welker vom Centrum Judaicum, die mit Bestattungsdaten des Friedhofs in Berlin-Weißensee aufwarten konnte, ist es gelungen, die Mehrzahl der genannten Personen genauer zu identifizieren. Es stellte sich heraus, dass wir es im Kern mit den drei verwandten Familien Aron, Salomon und Stern zu tun haben.
Der Erstbesitzer unserer Haggada, der 1818 im rheinischen Nickenich geborene Joseph Salomon, gab das Buch an seinen 1848 in Aachen geborenen Sohn Rudolph weiter, der später in Berlin Mitinhaber einer mechanischen Trikot-Weberei wurde. In der Wohnung Hallesches Ufer 3/4, die er mit seiner aus Siegburg stammenden Frau Lina geb. Stern bewohnte, fanden die Seder-Abende in den Jahren 1886 bis 1888 statt. In den Jahren 1899 bis 1901 und vermutlich auch 1902 sowie 1904 versammelte man sich in der Wohnung ihrer Nichte Anna Aron und deren Mann Paul in der Hedemannstraße 13/14. An den Sedern trafen sich die Eltern, Geschwister und Kinder von Anna Aron, Geschwister von Rudolph Salomon sowie weitere Verwandte und Freund*innen, die zum Teil ganz in der Nähe wohnten. Die Lebensdaten vieler der hier Genannten konnten ermittelt werden sowie Einzelheiten über teils schwere Schicksale: So wurde Anna Aron 1942 in Theresienstadt, ihr Sohn, der Studienassessor Dr. Kurt Aron, im gleichen Jahr in Auschwitz ermordet.
Die Haggada als Erinnerungsbuch
Welche Wege die Haggada indessen genommen hat, bis sie im Online-Verkauf angeboten wurde, wird wohl nicht zu rekonstruieren sein. Fest steht, dass sie als Buch des Gedenkens an den Auszug aus Ägypten den Familien als eigenes Erinnerungsbuch diente und sich nun als kleines Fenster zu ihren Geschichten öffnet. Dass es jetzt an einem Ort aufbewahrt wird, der sich unweit der Wohnungen befindet, in denen es vor mehr als hundert Jahren bei Pessach-Sedern gelesen wurde, ist ein großer Zufall. Weitere Forschungen mögen neue Kenntnisse mit sich bringen – und hoffentlich zu Kontakten mit den Nachkommen führen.
Ein Besuch in Schweden bei den Nachkommen
Vor etwas mehr als zwei Jahren schrieb ich hier über die online erworbene Pessach-Haggada. Ende März dieses Jahres flog ich nun nach Stockholm, um Alexander Summerville zu besuchen. Er ist der Urenkel von Paul Aron, in dessen Wohnung in der Hedemannstraße 13/14 in fünf der in der Haggada verzeichneten Jahren Pessach-Sederabende abgehalten wurden. Ich hatte Alexanders Namen über zwei andere Urenkelinnen Paul Arons erhalten, die ich zuvor kontaktiert hatte und die ich ebenfalls während meines Kurzaufenthalts in der schwedischen Hauptstadt treffen konnte.
Eine reichhaltige Familiensammlung
Obwohl ich im Vorfeld meiner Reise mit Alexander korrespondiert und auch persönlich mit ihm gesprochen hatte, war ich vom Umfang und Reichtum seiner Familiensammlung überrascht: Sie enthält Gemälde seiner Vorfahr*innen, Tischdecken, Kleidungsstücke und sonstige Accessoires, Bücher, Flugschriften sowie eine große Anzahl von Dokumenten und viele Fotografien.
Zu neun von den elf Personen, die in der Namensliste am häufigsten auftauchen, sind in der Sammlung Dokumente und/oder Fotografien erhalten: zu Emanuel Stern, dem Besitzer einer großen Konfektionsfirma in Aachen, und seiner Frau Johanna geb. Leven, die jährlich nach Berlin reisten, um Pessach mit ihrer Tochter Anna Aron, deren Ehemann Paul und den Kindern Lilly und Kurt zu feiern. Einigen Sederabenden wohnten auch Jenny Friedländer, die älteste Stern-Tochter, mit ihrem Ehemann Paul und ihrer Tochter Liesel bei, wie auch Johanna Sterns Schwester, Caroline Salomon, und deren Mann Rudolph, bei dem zu Hause man in den früheren Jahren Pessach gefeiert hatte.
Freude, Überraschung und Trauer
Das archivalische Material, das zum Vorschein kam und viele der in der Haggada aufgelisteten Namen ein Stück weit lebendig werden lässt, enthält zum Beispiel den Bürgerbrief für Samuel Aron aus dem Jahre 1847, eine jüdische „Konfirmationsurkunde“ für Anna Stern, die 1879 in Aachen ausgestellt wurde, die Einladungskarte zu ihrer Hochzeit mit Paul Aron 1888, eine kleine Schiefertafel, die Kurt Aron während seiner Schulzeit benutzte, und eine Urkunde, mit der Liesel Friedländer für ihren Dienst als Hilfsschwester während des Ersten Weltkrieges ausgezeichnet wurde.
Ein umfangreicher Teil der Papiere betrifft den beruflichen Werdegang des Lehrers Kurt Aron, bis zu seiner Entlassung aus dem öffentlichen Schuldienst 1933 und seiner Anstellung an verschiedenen Jüdischen Schulen in Berlin, sowie seine intensiven, aber letztlich erfolglosen Bemühungen, Deutschland Ende der 1930er-Jahre zu verlassen. Dokumentiert ist auch die Weigerung des nationalsozialistischen Regimes, im Sommer 1942 ein Wiedersehen von Anna Aron mit ihrer Tochter Lilly zu ermöglichen, obwohl ein Visum der Schwedischen Regierung gewährt war. Ungeachtet der Tatsache, dass ihr Sohn Kurt in einer sogenannten privilegierten Mischehe lebte, wurde dieser im Dezember desselben Jahres nach Auschwitz deportiert und dort ermordet – auch dazu finden sich Dokumente. Ich verbrachte zwei volle Tage damit, die Familiensammlung zu sichten und das Material durchzugehen, begleitet von einem Wechselbad der Gefühle: Freude, Überraschung, Fassungslosigkeit und Trauer.
Eine großzügige Schenkung
Kurz nach meinem Besuch überließ Alexander Summerville den Großteil der Dokumente und Fotografien, die zur Familiensammlung Aron und Stern gehören, dem Jüdischen Museum Berlin, das sich in weniger als einem Kilometer Entfernung von dem Ort befindet, an dem sein Urgroßvater mit seinen Familienangehörigen einst Pessach feierte. Hier wird sie inventarisiert und dann sowohl in unseren Ausstellungen und im pädagogischen Archivprogramm präsentiert als auch externen Wissenschaftler*innen zugänglich gemacht. Die Sammlung ist eine bedeutsame und sehr willkommene Ergänzung unserer Bestände. Wir möchten Herrn Summerville herzlich für seine großzügige Schenkung danken.
Aubrey Pomerance, Archivleiter, der unseren Leser*innen Chag Pessach Sameach wünscht!
Zitierempfehlung:
Aubrey Pomerance (2014/2016), Ein kleines Fenster zur Geschichte. Eine neuerworbene Pessach-Haggada und ihre früheren Kreuzberger Besitzer*innen.
URL: www.jmberlin.de/node/7745
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