
Kurt
Eine Spurensuche
Eine wahre Fundgrube an Geschichte(n) sind die derzeit rund 1.500 Familiensammlungen und Nachlässe, die im Archiv des Jüdischen Museums Berlin bewahrt werden: Sie dokumentieren und verdeutlichen deutsch-jüdische Geschichte anhand zahlreicher individueller Schicksale.
Forscher*innen können unsere Sammlungen im Lesesaal einsehen, um sie wissenschaftlich auszuwerten. Vorab jedoch müssen diese Bestände von den Mitarbeiter*innen des Museumsarchivs inventarisiert werden. Im Zuge einer solchen Erschließung können – mitunter durchaus umfangreiche – Hintergrundrecherchen erforderlich werden. Mit Geduld, Herzblut, der Hilfe von Dritten, etwas Erfahrung und ein wenig Glück lassen sich dadurch immer wieder Lücken schließen und Querverbindungen herstellen, so dass aus einzelnen Puzzleteilen allmählich ein größeres Bild entstehen kann.
Am Beispiel der Sammlung von Familie Oliven soll hier erzählt werden, welch umfassende und teils überraschende Erkenntnisse die Tiefenerschließung eines Bestandes zutage fördern kann.

Die Sammlung von Familie Oliven wird ausgepackt; Jüdisches Museum Berlin, Foto: Ulrike Neuwirth
Ausgangspunkt
2016 und 2018 kam die sehr umfangreiche Sammlung von Familie Oliven ins Archiv des Jüdischen Museums Berlin. Nachdem sie ausgepackt war, landete sie schließlich zur Inventarisierung auf dem Tisch eines Archivmitarbeiters. Neben Fotos, Tagebüchern und Dokumenten aus rund 200 Jahren Familiengeschichte gehört zu dieser Sammlung auch ein kleines Büchlein, das mit dem Goethe-Zitat Alles um Liebe betitelt und der Widmung „Für Klaus von Kurt“
versehen ist.
Neben der Widmung klebt ein Foto von Kurt: Er schaut direkt in die Kamera, vielleicht etwas melancholisch. Und auf der Folgeseite steht in ordentlicher Handschrift:
„Bücher sprechen zu einem / wenn man sie erhört. / Und dieses Büchlein spricht zu dir / wenn du es aufschlägst. / Es kann leise reden / wenn du es leise ansprichst / und es kann laut reden / wenn du es möchtest. / Es ist ohne Zusammenhang / und doch eine Kette. / Es ist Eines / und doch Vieles. / Bücher sprechen zu einem / wenn man sie erhört / und dieses Büchlein spricht zu dir. / Hör:“
Das Büchlein enthält niedergeschriebene Gedanken zu Fragen der Liebe, verschiedene Zitate und Gedichte, deren Urheber wir bislang nicht in jedem Fall zweifelsfrei klären konnten, sowie die Abschrift eines „Brief[es] aus Silingtal“
, und ist darüber hinaus liebevoll illustriert - aber sehen Sie selbst:

Porträt von Kurt aus dem Büchlein Alles um Liebe, ca. 1937/38; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2016/15/322, Schenkung von Familie Oliven
Alles um Liebe

Diese und alle folgenden Abbildungen zeigen die Seiten des Büchleins Alles um Liebe, ca. 1938 (leere Buchseiten werden in der Regel nicht abgebildet).
Jüdisches Museum Berlin, Schenkung von Familie Oliven

Transkription: „Eingang
Bücher sprechen zu einem
wenn man sie erhört.
Und dieses Büchlein spricht zu dir
wenn du es aufschlägst.
Es kann leise reden
wenn du es leise ansprichst
und es kann laut reden
wenn du es möchtest.
Es ist ohne Zusammenhang
und doch eine Kette.
Es ist Eines
und doch Vieles.
Bücher sprechen zu einem
wenn man sie erhört
und dieses Büchlein spricht zu dir.
Hör:“

Transkription: „Es gibt 5 Arten von Beziehungen der Menschen miteinander.
Das Kennen, Die Bekanntschaft (Flirt)
Die Kamaradschaft, die Freundschaft und die Liebe.
5 Stufen sind es, die von dem ‚Ich‘ zum ‚Du‘ hinführen. 5 Stufen des Leides und der Freude.
Mancher überspringt sie in einem Tage, andere brauchen Jahre, und mancher geht sein ganzes Leben zum ‚Du‘ und kommt doch nie über die Stufe der Bekanntschaft hinaus.
Fähigkeit heißt das Zauberwort das zum ‚Du‘ hinführt, bis zur letzten Stufe der Liebe.
Das Wissen ist die Brechstange zur Fähigkeit.
Wissen und Ehrlichkeit.
Ehrlichkeit gegenüber dem ›Ich‹ und gegenüber dem ‚Du‘.
Ehrlichkeit des Geistes und des Herzens.
Betrachtet man diese 5 Stufen, so betrachtet man das Leben.“

Transkription: „Kennen, so heißt die erste Stufe.
Man gibt sich die Hand, doch die Seele spricht nicht.
Man unterhält sich, doch das Herz schweigt.
Düster liegt die zweite Stufe des Lebens vor uns, die Stufe der Bekanntschaft (des Flirtes).
Kein Licht der Seele erleuchtet sie und kein Feuer des Herzens erwärmt sie. Nur manchmal flammt auf ihr das Feuer der Sinne, aber dieses wärmt nicht, dieses Feuer verbrennt, verbrennt die Seele und das Herz. Man kann auf ihr mit dem Körper einander nahe sein. Aber man bleibt immer noch fern vom ‚Du‘.
Licht wird es um uns, wenn wir auf die Stufe der Kamaradschaft gestiegen sind.
Der Geist des ‚Ichs‘ nähert sich dem Geist des ‚Dus‘ Wissen umeinander entsteht. Kühl ist es auf der Stufe der Kamaradschaft, denn die Herzen sind einander fern, und sie geben keine wärmende“

Transkription: „Flamme.
Die Seele kommt auf Ihre Kosten aber nicht die Herzen.
Sie stehen von ferne und – frieren.
Die 4. Stufe heißt Freundschaft.
Zur Kamaradschaft gesellen sich die Herzen und wärmen einander
Junge und Mädchen,
Mann und Frau,
man hat sich lieb. –
Kann ein Mensch noch höher steigen?
Irgendwann und irgendwo in der Welt steigt ein Paar auf die Stufe der Liebe. Ist es in Singapur oder Marseille, in New-York oder Samarkand? In einem Palaste oder in einer Lehmhütte? Denn Liebe ist eine Blume, die man nicht sieht, wenn sie blüht. Liebe läßt sich nicht beschreiben. Worte sind zu klein, um das Wesen der Liebe zu treffen. Sie fallen immer daneben. Nur in manchen fernen Musikstücken tönt sie hervor, nur in manchen, fernen Bildern blickt sie uns an! –
Seelig die Menschen, die die Stufe der Liebe erreichen.“

Transkription: „Lied.
Du, der ichs nicht sage, daß ich bei Nacht weinend liege
deren Wesen mich müde macht
wie eine Wiege.
Du, die mir nicht sagt, wenn sie wacht meinetwillen:
Wie, wenn wir diese Pracht
ohne zu stillen
in uns ertrügen?
Sieh dir die Liebenden an,
wenn erst das Bekennen begann,
wie bald sie lügen.
Du machst mich allein. Dich einzig kann ich vertauschen.
Eine Weile bist du’s, dann wieder ist es das Rauschen,
oder es ist ein Duft ohne Rest.
Ach, in den Armen hab ich sie alle verloren,
du nur, du wirst immer wieder geboren:
weil ich niemals dich anhielt, halt ich dich fest.
Rainer Maria Rilke“

Transkription: „Ein Selbstmörder spricht aus dem Jahre 1500 v. in Ägypten
Zu wem spreche ich heute?
Die Herzen sich frech,
Ein jeder nimmt die Habe des Nächsten.
Zu wem spreche ich heute?
Der Sanfte geht umher,
Der Freche kommt zu allen Leuten hin.
Zu wem spreche ich heute?
Der Sanfte geht unter
Es giebt keine Gerechten.
Die Erde ist ein Beispiel von Übeltätern.
Heute steht der Tod vor mir
Wie die Genesung vor den Kranken
Der sich erheben soll von seinem Schmerzenslager
Wie Duft von Myrrhen
Wie kühler Hauch an heissen Tagen
Heute steht der Tod vor mir
Wie ein Geruch von Lotusblumen
Wenn man am Ufer sitzt der Trunkenheit
Heute steht der Tod vor mir
Wie eine Heimkehr“

Transkription: „Nächtliches Traumsterben
Durch
meine schwarzen
irrwirren, schweigenden
schwimmfließenden, schwimmgleitenden, schwimmflutigen
urmeerwärtshin wanderigen
Traumzipressen -,
Traumtarus und Traumthujer-
Wald
unter Sternen, die sich spiegeln,
labyrinthisch
treibt … mein … Boot.
Berückend … sirenisch … zerübersüss
rufsingt
ein Märchenvogel.
Die
ganze… schwere… lange
Nacht!
Meine
bleichen, schmalschlanke feinen,
mir
wie fremde
kühlselige, rätselseltsam, starrhängigen“

Transkription: „Hände
tauchen in schimmernde
Wasserrosen.
Unten, -
lauernd… unten… lautlos,
unten
drohend, glimmernd
versucherrich, verblenderich, verführerich
unergründlich, ewigkeitstotstumm
die
… Tiefe!...
Immer weiter
die
Ufer!
Immer mir ferner… mein Leben!... Immer mir fremder sein… Lied!
Arno Holz“

Transkription: „Traum
Ich träumte einst, ich wär ein Schmetterling
Und flöge über Wiesen und Auen.
Und da wachte ich auf, und sieh:
Ich war ein Mensch.
Nun weiß ich nicht –
Bin ich ein Mensch, dem einst träumte
er sei ein Schmetterling
und flöge über Wiesen und Auen,
oder bin ich ein Schmetterling
der träumt
er sei ein Mensch.
Kon-fu-tse“
[Zhuangzi]

Transkription: „Sagenlied der Fang
›Ich trank den Dzang, den Trank, der das Herz erfreut.
Ich trank den Dzang, mein Herz ist ergötzt, ich trank den Dzang.
Der Häuptling, dem alle gehorchen, ich bin es, der grosse Häuptling.
Ich bin es, Ngan, ich bin es, der Herr der Wasser, der Herr der Wälder.
Der Häuptling dem alle gehorchen, ich bin es, der grosse Häuptling.
Ich trank den Dzang, den Trank, der das Herz erfreut.‹
Aus dem afrikanischen von Carl Einstein.“

Transkription: „Gebet
Amon-Ra, ich liebe dich und ich habe dich
in mein Herz geschlossen… O du süßer Brun-
nen für den Durstenden in der Wüste!
Er ist verschlossen für den, der redet, aber
er ist offen für den, der da schweigt.
Wenn der Schweigende kommt, siehe, er
findet den Brunnen.“
[ägyptische Hymne]

Transkription: „Erfülle nicht dein Herz mit einem Bruder,
kenne keinen Freund,
und wähl dir keine Vertrauten,
worin kein Ende ist.
Wenn Du schläfst, behüte für dich dein eigen Herz
Denn der Mensch hat keine Freunde
In den Tagen des Unheils.
Höre auf das, was ich dir sage,
Auf dass du ein König der Erde seist.
Auf dass du ein Herrscher der Lande seist.
Auf dass du stark werdest im Guten.
2900 v.“

Transkription: „Hüte dich vor dem ausländischen Weibe,
das man in seiner Heimatstadt nicht kennt;
sieh es nicht an. Vermische Dich nicht mit
ihm, denn es ist eine große und tiefe Flut,
deren Wirbel kein Mann kennt. Das Weib,
dessen Gatte in der Ferne weilt: ›Ich bin schön‹,
sagte es zu dir Tag für Tag. Wenn es keine
Zeugen hat, tritt es heran und betört dich.
O großes, todeswürdiges Verbrechen, dieser
Betörung zu lauschen, sei es auch, das die
Kunde nicht ausser Landes geht. Denn nach
Dieser Sünde ist keine mehr, der der Mann
nicht verfallen würde.“

Transkription: „Grabschändung (Ausgrabung)
Die Erde ist in Finsternis wie die Toten;
Sie schlafen in ihren Kammern,
Ihre Köpfe sind verhüllt,
Ihre Nasenlöcher verstopft,
und keiner sieht den andern,
während alle die Dinge gestohlen sind,
Die unter ihren Köpfen waren,
und sie wissen es nicht…
Die Welt ist im Schweigen,
Er, der sie geschaffen hat, ruhet in seinem Horizont.“

Transkription: „Tod
Keiner kehret von dort zurück,
uns zu sagen, wie es ihnen dort ergehe,
uns zu erzählen von ihren Geschicken,
um unser Herz zu befriedigen.
Bis auch wir uns aufmachen,
Ihr Land zu suchen,
Müssen wir zufrieden sein,
Unser Herz zu ermutigen,
dass es vergesse.“

Transkription: „Glücklich ist, wer nie das Herz, das er liebt,
hintergeht,
Glücklich ist, wer seinen Feind kennt und ihn
Zerschmettert,
Glücklich ist, wer die Wahrheit kennt und
nichts fürchtet.“

Transkription: „… Und wenn der Mensch einst selbst imstande sein wird, die Stellung und Bewegung all der vielen, das Gehirn zusammensetzenden Teilchen genau zu sehen und zu berechnen. Wenn es selbst einmal eine ›Astronomie des Gehirns‹ geben sollte, die über die Bewegung der Gehirnteilchen genau so orientiert ist wie der Astronom über die Bewegung der Gestirne über uns, immer und immer wieder wissen wir dann nicht, weshalb bei bestimmter Stellung der Teilchen, dieser und weshalb bei anderer Stellung jener Gedanke zustande kommt. Wie mechanische und chemische Veränderung in unserm Hirn Geistiges erzeugen, das ist das Rätselhafte! – So wissen wir in letzter Linie gar nicht, ob die Welt, wie wir sie sehen, wie sie uns erscheint, in Wahrheit besteht, als sie nicht nur ein Produkt unseres Gehirnes ist. Wir wissen nicht, ob ein anderes veranlagtes Wesen ein ganz anderes Bild von der Welt hätte. Die Dinge der Aussenwelt sind zwar in Wahrheit vorhanden, aber was uns als Pflanze, als Stein, als Sonne erscheint,“

Transkription: „ist als Ding aus sich, als wirklich Wirkliches, vielleicht etwas ganz anderes.
Die Wissenschaft hat keinen anderen Zweck als die Wahrheit zu finden. Ob dieselbe nach menschlichen Begriffen, beruhigend oder trostlos, schön öder unästhetisch, logisch oder inqonsequent, vernünftig oder albern, nothwendig oder wunderbar ist.
Mag in der Wahrheit enthalten sein, daß es kein Sinn sei auf Erden zu leben, mag sie sagen ›Der Mensch ist eine Krankheit der Erde‹ so ist sie doch wahr im letzten Sinne der Worte.“

Transkription: „Beständig fallen die Tropfen
des Wehs. –
Zehren und erinnern
Sie sickern bis in die Tiefen des Herzens
und fallen pochend auf den Grund
des Seins.
Beständig fallen die Tropfen
des Wehs. –“

Transkription: „Sommer
Es tragen die Felder reifende Frucht.
Wärend das Jahr noch mitten in seiner Kraft
innehält und sich besinnt.
In solchen Tagen zittert die Hitze über Felder und Wälder.
In solchen Tagen sind die Tiere still,
und die Menschen sind gedrückt, als
trügen sie Lasten auf schwankenden Schultern.
Die Natur hält den Atem an,
und ist schwanger voll kommender Frucht.“

Transkription: „Jeder Mensch.
Jeder Mensch trägt in seinem Innern
einen kleinen Stein mit sich herum.
Und dieser Stein heißt Sehnsucht.
Er trägt ihn; wo er auch sein möge
und was er auch tuen mag.
Er geht nie verloren.
Nur manchmal wird er vergessen. –
Manchmal ist er leicht
und manchmal schwer.
… Jeder muß ihn tragen. –
Irgendwo bewegt der Wind die Palmen
irgendwo breitet sich das Meer. –
Man hat Sehnsucht nach etwas
Unerklärlichem.
Vielleicht nach einem Mund der küsst,
vielleicht nach einem Baum der Schatten spendet.
Man weiß es nicht
und keiner kann es einem sagen.
Wälder, Berge und Wiesen sind
… Und doch…“

Transkription: „Denn jeder Mensch trägt in seinem Herzen
einen kleinen Stein mit sich herum
wo er auch sein möge
und was er auch tuen mag
und dieser Stein heisst Sehnsucht.“

Transkription: „Die Zeit
Schreiend spiegeln sich die Lampen
in den Fenstern und Strassen.
Sie stehen wie Soldaten an der Front des Krieges
Aufgerissenden Angesichts all dies feilbietend
Was sie inwendig besitzen.
Und gellend fegen vorüber die Töne des Verkehrs
Gleich als ob sie mit starren, wunden Fingern, die Zeit zu halten versuchten, die vor ihnen hereilt.
Und sie merken nicht, daß es gerade ihre Hast ist, die sich wie eine steinernde Mauer um ihr Sein gelegt hat, und nun die Zeit immer schneller vor sich her stößt.
Eilend vergrößert der Mensch seine Schritte durch Maschienen.
Vermeinend die Zeit zu fassen, die er, kaum eines Armes-Länge vor sich sieht.
Doch als sich seine Hand, sich ihr greifend nährte, stürzte die Zeit, durch seine neue Hast von neuem gestoßen, mit wunden Augen und Füssen noch schneller nach vorne.
Staunend bemerkt es der Mensch.“

Transkription: „Der neunte Spruch
Man kann nicht halten und einfüllen zugleich;
Man kann nicht schärfen und tasten zugleich;
Man kann nicht haben und wahren zugleich.
Eigensucht, zügellos, zeugt Sünde
In Nichtigkeit lebend wirken, vollenden:
Das ist die Bahn.
Lao-Tse“

Transkription: „Das ewige Gedicht
Ich male Lettern, von der Einsamkeit betreut.
Der Bambus wellt wie Meer. Aus Sträuchern fällt der Tau wie Perlenschnüre.
Ich werfe Verse auf die leuchtenden Papiere,
Als seien Pflaumenblüten in den Schnee gestreut.
Wie lange währt der Duft der Mandarinenfrucht bei einem Weibe,
Die sie in ihrer Achselhöhle trägt? Wie lange blüht im Sonnenschein der Schnee?
Nur dies Gedicht, das ich hier niederschreibe,
O daß es ewig, ewig, ewig steh!
Li-Tai-Pe“
[übersetzt von Klabund]

Transkription: „Selbstvergessenheit.
Der Strom floss
der Mond vergass, vergass sein Licht
und ich vergass mich selbst,
als ich so saß beim Weine.
Die Vögel waren weit
das Leid war weit
und Menschen gab es keine.“
[Li-Tai-Pe, übersetzt von Klabund]

Transkription: „Einsamer Weiher
Uralter Weiher…
von dem Sprung eines Frosches
im Wasser ein Ton…“
[„Frosch-Haiku“ von Matsuo Bashō]

Transkription: „Der letzte Spruch.
Wahres Wort ist unschön
Schönes Wort ist unwahr.
Wertvoller Mensch ist streitlos,
Streitender Mensch ist wertlos.
Weiser ist ungelehrt;
Gelehrter ist unweise.
Der Vollendete sammelt nicht sein Haben;
Verschwendet ans Menschliche und erwirbt.
Schenkt ans Menschliche und ist reich.
Die Bahn des All:
Ausgleich ohne Kraft.
Die Bahn des Menschen:
Tat ohne Zwang.
Lao-Tse“

Transkription: „Geisha.
Allen Männer zu gefallen
Bin in Taumel ich und Tand
Wenn sie ihre Wünsche lallen
sitz ich im [sic!] mich abgewandt.
Geben Gold und geben Speise
keiner gab ein gutes Wort.
Und so weine ich wild und leise
meine süsse Sehnsucht fort.
Gestern trieb nun das Gelüste
einen Jüngling zu mir her
der mich auf die Stirne küsste –
Ach, ich seh ihn nicht mehr.“
[Aus „Der Kreidekreis“ von Li Qianfu, übersetzt von Klabund]

Transkription: „Brief aus Silingtal
Lieber Kurt
So leid tut es mir, daß wir in Silingtal so wenig miteinander gesprochen haben, jetzt nach Deinem Brief, der mir gezeigt hat, daß Du mich verstehen wirst, bin ich traurig darüber.
Hier sind alle anders als ich, und ich bin auch schon anders geworden. Obwohl meine allgemeine Stellung eine andere ist, als jemals vorher, bin ich doch so leer, so allein. Und so auch Selma von uns gegangen ist, glaube ich oft, daß ich daran zerbrechen werde, daß ich hier niemanden mag und niemand mich. Mit Selma stand ich die letzte Zeit so gut, alle Gefühle, alle Liebe, die ich in mir trage, gab ich ihr und wir haben wunderschöne Stunden miteinander verlebt, die uns beiden unter all den ›fremden‹ Menschen hier, alles waren und die mir als Erinnerung noch immer alles sein müssen.
Selma ist gegangen, weil sie hier“

Transkription: „nicht leben konnte, und sie wird irgendwo anders glücklich leben.
Ich glaube, ich werde nirgendwo mehr leben können, alle Dinge, an denen ich zerbreche, sind in mir, und ich werde nie mehr anders werden. Es giebt Menschen, die sind zu feige, um zu sterben und zu schwach, um zu leben.
Keiner hier weiß, wie es in mir aussieht, noch niemals war ich äußerlich so ausgeglichen, so beherrscht, wie heute, und noch nie war ich so leer, noch nie erschien mir mein Leben so ohne Sinn.
Ich grübele und in mir ist eine große Frage, auf die mir niemand Antwort weiß, und ich habe so Sehnsucht und ich weiß nicht wonach. –
Ich gehe einen Weg ohne Ende, ich lebe ein Leben ohne Sinn und Ziel. Wofür? Wozu? Oft möchte ich nicht so bewußt leben, ich möchte mich fallen lassen und alles vergessen. –
Ich träume viel und ich träume um zu vergessen, um wenigstens im Traum glücklich zu sein, und der Traum ist“

Transkription: „schön, aber im Träumen habe ich Angst vor dem Erwachen. Denn wenn ich die Augen öffne, dann ist der Traum vorbei, Vergangenheit, ist versunken und an eine Zukunft glaube ich längst nicht mehr, die Gegenwart aber ist grau und das Leben ist schwer. –
Oft muß ich weinen, und ich weiß nicht warum, ich denke und grüble und mein armer Kopf tut mir so weh. Ich habe Angst und ich weiß nicht wovor. –
Vor ½ Jahr etwa habe ich Richard aus dem Apothekerschrank Arsen-Tabletten gestohlen, ich habe sie wieder zurück getan, weil es damals Kinderei war.
Heute, Arsen-Tabletten haben wir nicht mehr, aber viele andere…
Ich bin schwach und mache es mir leicht, ich lebe und handele mit dem Bewußtsein, daß, wenn ich einmal überhaupt nicht mehr weiterkann, es diese letzte Möglichkeit giebt. –
Was hilft alles Bewusstsein, alle Aktivität,“

Transkription: „Ich werde das Leben niemals ertragen können, an all den Dingen, die in mir sind, werde ich kaput gehen. –
Warum ich Dir das alles schreibe, Du mußt nicht fragen und, wenn es Dir nicht recht ist, dann antworte mir nicht. Sei mir nicht böse, und mißversteh mich nicht.
Laß Dir’s gut gehen!
Gruß Deine …
(Man kann über Gefühle denken wie man will, ob reif oder unreif, ob dumm oder klug. Man kann ihre Realität nicht wegleugnen. Und man kann ihnen nicht die Wirkung absprechen die sie auf den fühlenden Menschen haben.)“

Transkription: „Faust II
Mephistopheles:
Ungern entdeck ich höheres Geheimnis. - Göttinen thronen hehr in Einsamkeit, Um sie kein Ort, noch weniger eine Zeit; Von ihnen sprechen ist Verlegenheit. Die Mütter sind es!
Faust aufgeschreckt:
Mütter!
Mephistopheles:
Schaudert’s dich?
Faust:
Die Mütter! Mütter! – ‘s klingt so wunderlich!“
[Johann Wolfgang von Goethe]

Transkription: „Sie produziert vor allem ihren eigenen Totengräber. Ihr Untergang und der Sieg dieser ist gleich unvermeidlich.“
[Karl Marx und Friedrich Engels]

Transkription: „Was auch kommen mag,
nie darfst Du soweit sinken
von dem Kakao, durch den man dich zieht
auch noch zu trinken.“
[Erich Kästner]
„Für Klaus von Kurt“
In welchem Verhältnis standen Klaus und Kurt? Klar war zunächst nur, wer Klaus ist: Klaus Oliven wurde 1918 in Berlin geboren und emigrierte 1939 nach Brasilien, wo er 2010 starb. Er steht im Mittelpunkt der vorliegenden Sammlung, die uns von seinen Kindern gestiftet wurde. Zahlreiche Dokumente aus seinem Leben sind überliefert, aber auch viele Fotos, auf denen er zu sehen ist.
Aber wer ist eigentlich dieser Kurt?
Kurt [Unbekannt]
Im Büchlein selbst findet sich kein weiterer Hinweis auf Kurts Identität, nicht einmal sein Nachname ist erwähnt. Vielleicht ergeben sich im Laufe der weiteren Erschließung des Bestandes Anhaltspunkte zur Klärung seiner Identität?

Porträt von Klaus Oliven, fotografiert von Margot Neuding, Dresden, 1938; Jüdisches Museum Berlin, Inv-Nr. 2016/15/8, Schenkung von Familie Oliven
Sicha über Freundschaft
Zunächst geht also die Inventarisierung weiter. Einige Tage später ist ein Stapel mit Gesprächsprotokollen an der Reihe, die 1937/38 in Frankfurt am Main bei Treffen des Haschomer Hazair, einer jüdischen Jugendbewegung, entstanden sind. Aus anderen Dokumenten geht hervor, dass Klaus Oliven zu dieser Zeit Führer der Frankfurter Gruppe war, deren Gesprächskreis mit dem hebräischen Begriff „Sicha“ (Gespräch) bezeichnet wurde.
Im Protokoll der Sicha vom 30.I.38 über Freundschaft geht es um unterschiedliche Beziehungen zwischen Menschen, um Kameradschaft, Freundschaft, Flirts und Liebe:
„Der heutige Mensch sieht den anderen Menschen als Ware, als Ding an. […] Es gibt keine Freundschaft, es gibt nur Flirts, es gibt keine Liebe, es gibt nur Verhältnisse [...].“
Sind das nicht genau die Themen, um die auch das Büchlein Alles um Liebe kreist? Auch die Handschrift wirkt vertraut. Und tatsächlich! Das Protokoll ist unterzeichnet mit „Kurt Friedmann“, der 1938 offenbar ebenfalls in Frankfurt ansässig war.

Protokoll der Sicha über Freundschaft, erste Seite, 30. Januar 1938; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2016/15/7, Schenkung von Familie Oliven

Unterschrift von Kurt Friedmann unter dem Protokoll (Ausschnitt), 30. Januar 1938; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2016/15/7, Schenkung von Familie Oliven
9 x Kurt
Das reicht als Ausgangspunkt für eine Recherche in der Residentenliste, einer Datenbank des Bundesarchivs, die mittlerweile in der 11. Auflage vorliegt und fortlaufend ergänzt und teilweise auch korrigiert wird.
Darin finden sich neun Einträge zu Personen mit dem Namen Kurt Friedmann sowie zwei weitere zu Personen mit dem Vornamen Curt. Der Älteste ist 1877 geboren, der Jüngste 1938. Der gesuchte Kurt müsste zwischen 1918 und 1925 geboren sein, so die Hypothese. Dazu passt leider keiner der Personendatensätze aus der Residentenliste, auch ist bei keinem als Wohnort Frankfurt am Main angegeben. Schade – so kommen wir hier nicht weiter.
Tagebücher als Quelle
Bleibt die Hoffnung, dass die Sammlung Oliven, zu der auch 14 Tagebücher von Klaus gehören, weitere Anhaltspunkte liefern wird. Klaus Oliven berichtet in seinen Tagebüchern ausführlich darüber, dass er der jüdischen Jugendbewegung angehörte, zunächst dem Habonim Noar Chaluzi, dann ab 1936 dem Haschomer Hazair.
Seine Zeilen offenbaren viele interessante Details über das Vereinsleben, das bündische Erziehungsideal, inhaltlich-ideologische Diskussionen, aber auch über gemeinsame Unternehmungen wie Fahrten und Heimabende. Dort steht auch, dass der 19-jährige Klaus im Oktober 1937 von Berlin nach Frankfurt am Main ging, um dort das „Ken“, also die Ortsgruppe, zu leiten.
Und endlich taucht auch Kurt Friedmann wieder auf:
„An mich schloss sich gleich sehr eng Kurt Friedmann an. […] Wie ich kam, war er 17, wurde 18 Jahre. Ein hübscher Junge, ganz blond, nur hatte er sehr unreine Haut, viel Pickel im Gesicht. Er sprach richtig Frankfurterisch. Ein hochintelligenter Junge, mit eigenen Gedanken, auch künstlerisch begabt. Er zeichnete gut und machte für seine guten Freunde Büchlein mit Gedichten und Zeichnungen. […]. Auch mir machte er eins, als ich schon längst von Frankfurt weg war. Ein ganz eigenartiger, merkwürdiger Junge, aber der einzige von allen, um den es sich wirklich lohnte.“
Ein „Büchlein mit Gedichten und Zeichnungen“
? – genau wie das Büchlein Alles um Liebe, das Sie weiter oben durchblättern konnten?

Eines der Tagebücher von Klaus Oliven; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2016/15/10, Schenkung von Familie Oliven

Tagebucheintrag von Klaus Oliven mit Erwähnung von Kurt Friedmann, Tagebuch Nr. 7 (Ausschnitt), Porto Alegre, 17. März 1940; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2016/15/10, Schenkung von Familie Oliven
Eine falsche Spur
Beflügelt von den neugewonnenen Erkenntnissen folgt ein neuerlicher Versuch, mehr über Kurt Friedmann zu erfahren: Auf einer kostenpflichtigen genealogischen Webseite findet sich tatsächlich ein privater Familienstammbaum, zu dem auch ein 1920 in Wiesbaden geborener und 2005 verstorbener Kurt Friedmann gehört. Wiesbaden ist nicht weit von Frankfurt – vielleicht handelt es sich um den Gesuchten?
Als die Eingabe „Kurt Friedmann 2005 Wiesbaden“ in eine Suchmaschine als ersten Treffer eine in Wiesbaden erschienene Publikation mit „Gedichten in Mundart von Kurt Friedmann“ liefert, steigt die Hoffnung, fündig geworden zu sein: Gedichte – das könnte passen, ebenso wie die (hessische) Mundart. Doch die schriftliche Nachfrage beim Genealogen und Ersteller des fraglichen Stammbaumes, die umgehend beantwortet wird, macht jede Hoffnung schnell wieder zunichte: Dieser Kurt Friedmann sei sein Vater und „nicht jüdisch“ gewesen.
Puzzleteile
Also bleiben fürs Erste nur die weitere Lektüre der Tagebücher von Klaus Oliven und die Hoffnung auf weitere Erwähnungen Kurt Friedmanns. Und tatsächlich: Wie Puzzleteile fügen sich nach und nach kleine Informationsfetzen zusammen, so dass allmählich ein vages Bild von Kurt Friedmann entsteht, freilich aus der Sicht seines Freundes Klaus:
Lieblingsbücher
Kurt und Klaus verband ihre Liebe zur Literatur. Zusammen mit anderen Freund*innen, ihren Chawerim und Chawerot, lasen sie Goethes Faust in verteilten Rollen – vielleicht landete deshalb später das Goethe-Zitat „Alles um Liebe“
auf dem Einband des kleinen Bändchens? Zu zweit lasen sie aber auch das kommunistische Manifest.

Doppelseite aus dem Fotoalbum mit vier Fotos zum „Frankfurter Bund“, 1937/38. Abgebildet sind Kurt Friedmann, Fredi Katz (1921-1941 in Kaunas ermordet), Hans Löwenstamm, Erich Moses, Chajim Pinkus, Grete Schaumberg (1920-1941 in Riga ermordet), Ruth Sichel (1920-?), Rony [Unbekannt]; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2016/417/40, Schenkung von Familie Oliven
Bevor Klaus Oliven im Frühjahr 1938 Frankfurt verließ, veranstalteten die Mitglieder des Haschomer Hazair bei Kurt zu Hause einen „schönen Abschiedsneschef mit Schmonzes“
, darunter verstanden sie einen literarischen Abend. Kurt hatte die Idee, dass jede*r die drei besten Stellen aus seinen*ihren Lieblingsbüchern vorlesen sollte. Kurts „Lieblingsbuch war Kästner’s:
Fabian
, und dann Fink:
Schmerzenskinder
.“
Auf Hachschara
Nicht nur Klaus sollte Frankfurt verlassen, sondern auch Kurt, denn er ging auf die Mittlere Hachschara. In der „Mi-Ha“ bereiteten sich 15- bis 17-Jährige auf die Auswanderung nach Palästina vor, indem sie landwirtschaftliche und handwerkliche Kenntnisse erwarben.
Die Widerstände, die es vorab zu überwinden galt, waren groß. Hans, Kurts vorheriger Gruppenführer, „hielt nämlich gar nichts von Kurt und wir bewerteten ihn völlig verschieden.“
Aber Klaus setzte sich für ihn ein und konnte schließlich auch Kurts Eltern von der Idee überzeugen.

Fabian. Die Geschichte eines Moralisten von Erich Kästner, Erstausgabe von 1931, Deutsche Verlags-Anstalt. Das Buchcover wurde von Georg Salter gestaltet; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. BIB/836/0, Schenkung von George Warburg
Da die Friedmanns mittellos waren, musste die Jüdische Gemeinde einen Zuschuss leisten. Schließlich erhielt Kurt die Bewilligung, auf ein landwirtschaftliches Gut nach Silingtal zu gehen. – Silingtal? Wo liegt denn das? Erst die Fernleihe eines Aufsatzes durch die Kolleg*innen unserer Bibliothek ermöglicht es, ein wenig Licht ins Dunkel zu bringen: Silingtal war ein weitgehend unbekanntes Auswandererlehrgut, das bei dem niederschlesischen Dorf Klein Silsterwitz lag. Es war vermutlich das einzige Hachschara-Lager, das zu diesem Zeitpunkt vom Haschomer Hazair betrieben wurde.
Abreise aus Frankfurt
Am 1. März 1938 trennten sich dann die Wege der beiden Freunde. Klaus kehrte zu seiner Familie nach Berlin zurück, um von dort weiter nach Dresden zu gehen. Kurt hingegen fuhr nach Silingtal.
„[Er] reiste in der selben Nacht ab, wie ich, nur 5 Minuten später. […] Er fuhr wohl mit großen Erwartungen zur Hachschara. Er hatte sich vorgenommen, dort ein neues Leben zu beginnen, wollte auch so schnell wie möglich aus Frankfurt fort, da Dorle einige Tage vorher nach Amerika abgefahren war, was ihm natürlich sehr nahe ging, nachdem ihm schon mal auf diese Weise eine Freundin, die er sehr geliebt hatte, genommen wurde.“
Dorle war Kurts 15-jährige Freundin, die im Hutgeschäft seiner Mutter arbeitete. In sein Tagebuch notierte Klaus, Kurt habe ihm „ganz vertraulich“
intime Details aus seiner Beziehung zu Dorle anvertraut.
„Das Buch spricht für sich selbst“
Die beiden Freunde hielten auch nach ihrer Abreise aus Frankfurt weiter Kontakt. Darum wissen wir heute, dass sich Kurt in Silingtal nicht wohl fühlte und er vor allem Probleme mit dem dortigen Leiter hatte, den er als Diktator empfand. „Es war schade um Kurt, dass er sich nicht einordnen konnte“
, notiert Klaus dazu in seinem Tagebuch.
Kurt blieb nicht lange, sondern kehrte schon nach ein paar Monaten wieder nach Frankfurt zurück. Klaus wohnte zu diesem Zeitpunkt bereits in Dresden und war mit seiner neuen Freundin Margot, genannt Spatz, zusammen, als Kurt auf der Durchreise Halt machte: „Kurt erzählte Spatz soviel Gutes von mir, aus Frankfurt etc., dass sie ganz entrüstet war, wie ein Junge so verrückt von mir schwärmen könne.“
Auch Klaus war nach wie vor sehr von Kurt angetan und bezeichnete ihn als „einen, wenn auch merkwürdigen, so doch begabten und beeindruckbaren Jungen. Etwas Mädchenhaftes, schwärmerisches, weichliches hat er an sich.“
Die beiden korrespondierten weiter, Kurt jedoch heimlich, weil seine Familie den Umgang mit Klaus nicht gerne sah. Er arbeitete in Frankfurt. Mit seinem Einkommen konnte er sich mehr schlecht als recht über Wasser halten. Klaus griff ihm unter die Arme und schenkte ihm seinen Knickerbocker-Anzug.
„Von Frankfurt aus schickte er dann endlich das mir seit unserer Trennung in Frankfurt versprochene Büchlein. […] Allen Leuten, die er sehr gern hatte, hat er so eins gemacht. […] Das Buch spricht für sich selbst und ich hebe es sorgfältig auf [...].“
Diesen Vorsatz sollte Klaus zeitlebens beherzigen.
„Also herzl. שלום“
Auch ein Teil der Korrespondenz von Klaus und Kurt ist in der Sammlung Oliven überliefert: Fünf Briefe und eine Postkarte, die Kurt zwischen dem 3. April und 10. August 1938 verfasste und fast alle in Silingtal aufgab. Nur den letzten Brief schrieb er bereits wieder aus Frankfurt am Main und verschickte ihn – „Anbei das langersehnte Buch“
– gemeinsam mit dem Büchlein Alles um Liebe.
Einem der früheren Briefe aus Silingtal hatte Kurt einen Brief an seine Eltern beigelegt, verbunden mit einer Bitte an Klaus:
„Sei so gut, kuvertiere ihn und schicke ihn an Isaak Friedmann Ffm, Eschersheimerlandstr. 5.“

Briefe von Kurt Friedmann an Klaus Oliven, Silingtal und Frankfurt am Main, 3. April bis 10. August 1938; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. Presse/2699/0, Schenkung von Familie Oliven

Postskriptum von Kurt Friedmann am Ende seines Briefes, Silingtal, 3. April 1938; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2016/15/9, Schenkung von Familie Oliven
Das wiederum entpuppt sich bei der Recherche als Glücksfall, denn endlich gibt es eine neue Spur! Mit der konkreten Adresse lässt sich eine Anfrage beim Institut für Stadtgeschichte in Frankfurt am Main stellen, das tatsächlich noch am selben Tag antwortet: Kurt Josef Friedmann wurde am 21. September 1919 geboren und hatte eine vier Jahre jüngere Schwester, die Margot hieß. Seine Mutter Jenny Friedmann führte ein Modegeschäft in der Hochstraße 4. Ab 1934 wohnte die Familie dann in der Eschersheimer Landstraße. Der Vater Isaak Friedmann verstarb am 23. September 1938.
In den Meldeunterlagen sei eine polnische Staatsangehörigkeit vermerkt. Die Kollegin aus Frankfurt vermutet deshalb, dass die Friedmanns im Rahmen der „Polenaktion“ im Oktober 1938 nach Polen abgeschoben wurde.
Endlich geht es wieder voran!
Aufgrund dieser neuen Anhaltspunkte gelingt es über ein paar Umwege, weitere Informationen zu Kurts Familie zu finden: Ein Sohn von Kurts Cousine, die hochbetagt in Jerusalem lebt, lässt sich im Internet ausfindig machen. Dankenswerterweise stellt er den Kontakt zu David her, dem Sohn von Kurts Schwester Margot. Er lebt in England und ist vollkommen überrascht von der E-Mail aus dem Jüdischen Museum Berlin.

Ein Stammbaum der Familie Friedmann muss her, um den Überblick zu behalten; Jüdisches Museum Berlin, Foto: Jörg Waßmer
„My Uncle“
David antwortet:
„Unfortunately my mother passed away some 19 years ago, and when she was alive she did not talk a lot about her life in Germany, maybe she just wanted to try and forget about the horrors. What I do know is that she mentioned that my uncle, whom my father called ‘The Communist’ wished to travel to Russia instead of accompanying my mother and grandmother to England. That’s really where the story ends, as he was never heard from again. […] Bizarrely, your email came a week after my wife and I travelled to Yad Vashem in Jerusalem and I tried to gain more information on my uncle whilst we were there. Alas without any success.“
(Leider ist meine Mutter vor 19 Jahren verstorben, und als sie noch lebte, erzählte sie wenig von ihrem Leben in Deutschland – vielleicht versuchte sie so, die Gräuel zu vergessen. Ich erinnere mich aber, dass sie einmal erwähnte, dass mein Onkel, der von meinem Vater ‚der Kommunist‘ genannt wurde, lieber nach Russland gehen wollte, statt meine Mutter und Großmutter nach England zu begleiten. Und damit endet diese Geschichte, denn keiner hörte jemals wieder von ihm. […] Bizarrerweise bekam ich Ihre E-Mail eine Woche nach einer Reise, die meine Frau und ich nach Yad Vashem in Jerusalem unternommen hatten, und während der ich versucht hatte, mehr über meinen Onkel zu erfahren. Doch leider ohne jeden Erfolg.)

Porträt von Kurt Friedmann, ca. 1937/38; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2016/15/322, Schenkung von Familie Oliven
Immerhin konnte das Archiv des Jüdischen Museums David aber Reproduktionen zweier Fotos seiner Mutter Margot aus einem der Fotoalben aus der Sammlung von Familie Oliven überreichen: Dort sind diese Fotos neben einem Foto von Kurt eingeklebt und beschriftet mit „Kurts Schwester“
. David ist überwältigt - nie zuvor hat er ein Foto seiner Mutter als junges Mädchen gesehen.

Zwei Porträts von Margot Friedmann, die auf der Rückseite jeweils mit einer Widmung versehen wurden: „Für Dich.- 3.12.1938“ bzw. „Denk manchmal an mich.- 23.2.39“; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2016/417/42/003 (linkes Bild) und Inv.-Nr. 2016/417/42/002 (rechtes Bild), Schenkung von Familie Oliven
Gedenkblatt in Yad Vashem
Wie sich aufgrund dieses Kontakts ebenfalls herausstellt, hatte David bereits vor rund 40 Jahren in der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem ein Gedenkblatt für seinen Onkel hinterlegt. Da es aber auf den Namen „Joseph Friedmann“ ausgestellt ist und der erste Vorname Kurt darin nicht erwähnt wird, war eine frühere Recherche des Archivmitarbeiters in der Online-Datenbank Yad Vashems erfolglos geblieben.
In diesem Gedenkblatt aus dem Jahr 1980 ist Russland als mutmaßlicher Aufenthaltsort während des Krieges angegeben, während Kurt Friedmann beim International Tracing Service in Bad Arolsen seit seiner Abschiebung im Rahmen der „Polenaktion“ als „verschollen“ gilt.
Abschiebung aus Deutschland
Einer der letzten, der Kurt Friedmann in Deutschland begegnet sein dürfte, war wiederum Klaus Oliven. Im neunten Band seiner Tagebücher schildert er die „Polenaktion“ im Oktober 1938: Damals wurden mindestens 17.000 im Deutschen Reich lebende Jüdinnen*Juden mit polnischer Staatsbürgerschaft verhaftet, an die Grenze verbracht und gewaltsam abgeschoben. Klaus wohnte zu diesem Zeitpunkt noch in Dresden und erlebte das damit verbundene Elend aus nächster Nähe:
„Die meisten Züge mussten auf ihrem Weg zur polnischen Grenze Dresden passieren. Die Gemeinde hatte von der Staatspolizei die Genehmigung bekommen, einen Hilfs- und Verpflegungsdienst am Bahnhof für die Durchfahrenden einzurichten.“
Klaus Oliven und Chawerim*ot meldeten sich als freiwillige Helfer. Sie verteilten Lebensmittel wie heiße Suppe, aber auch Getränke, Hygieneartikel und Arzneimittel sowie frankierte Postkarten, damit die Abgeschobenen Angehörige benachrichtigen konnten. Klaus berichtet weiter:
„Auch aus Frankfurt kamen Züge durch und in einem fand ich viele alte Frankfurter Freunde. Kurt, seine Schwester Margot, seine Mutter (der Vater, so erfuhr ich auf dem Bahnsteig, war inzwischen gestorben). […] Der Zug hielt lange, und ich hatte etwas Zeit, mit ihnen zu sprechen. […] Kurt setzte sich beinahe auf den Hintern, als er mich sah. Das hätte er nicht gedacht.“
Weiter erwähnt Klaus, dass Margot und ihre Mutter nach Frankfurt zurückkehren konnten: „Nur Kurt war nach Polen rübergekommen“
. „Von Kurt haben wir nun 4 Wochen keine Nachricht mehr“
, schrieb Kurts Schwester Margot im Dezember 1938 an Klaus Oliven. „Doch von Bekannten hörten wir, dass es Ihm leider nicht besonders geht, da er keine Arbeit hat und vom Komittée lebt.
“
Hier verliert sich die Spur des damals 19-jährigen Kurt Friedmann.

Kurt Friedmann beim Klettern auf einer Mauer, ca. 1937/38; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2016/417/42/001, Schenkung von Familie Oliven
Offene Fragen
Um eine Antwort auf die große Frage nach dem Verbleib Kurt Friedmanns zu finden, fehlt uns bislang leider jeder Anhaltspunkt. Vermutlich sind wir hier am Ende unserer Möglichkeiten angelangt, sein weiteres Schicksal aufzuklären. Hoffnung besteht eher, kleinere Fragen beantworten zu können, die im Zuge der beschriebenen Recherchen noch offen bleiben mussten.
In seinen Tagebüchern erwähnt Klaus Oliven mehrfach, dass Kurt auch anderen Freund*innen ähnliche Büchlein wie das hier vorgestellte mit Gedichten und Zeichnungen geschenkt habe:
- Einer der genannten Freunde war Kurt Sommerfeld. Seine Identität ließ sich nicht zweifelsfrei klären. Manches deutet darauf hin, dass er 1939 im Exil in London den Freitod wählte. Unklar ist dementsprechend auch, ob sein Nachlass irgendwo erhalten geblieben ist.
- Auch Bella Reiner, die später Xiel Federmann heiratete, soll ein Büchlein geschenkt bekommen haben. Als das Archiv ihren Sohn in Israel kontaktiert, teilt er mit, dass sich im Nachlass der 2011 Verstorbenen leider kein solches Büchlein befinde.
- Bislang nicht aufklären ließ sich das weitere Schicksal von Kurt Friedmanns Freundin Dorle, die in die USA emigrierte. Auch sie soll ein Büchlein bekommen haben. Aber weder sie noch etwaige Kinder konnten bislang ausfindig gemacht werden.
- Haben noch weitere Freund*innen Kurt Friedmanns solche Büchlein erhalten, finden sie sich eventuell noch bei den Empfänger*innen oder in deren Nachlässen?
Können Sie weiterhelfen? Kennen Sie weitere Spuren?
Jörg Waßmer
Kontakt
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Zitierempfehlung:
Jörg Waßmer (2018), Kurt. Eine Spurensuche.
URL: www.jmberlin.de/node/5803
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