Das gibt’s doch nicht! Oder doch?
Zufälle im Archiv
In unserer täglichen Archivarbeit kommt es immer wieder zu Zufällen, die uns manchmal unglaublich erscheinen. So zum Beispiel, als der Archivleiter Aubrey Pomerance 2013 nach New York reiste, um potentielle Stifter*innen zu besuchen und neue Familiensammlungen zu aquirieren. Die Kontakte hatte er vorher geknüpft, aber erst in Manhattan angekommen realisierte er, dass zwei Personen, die er besuchte, im selben Haus in der W 70th Street in der Upper Westside wohnten.
Beide wussten nichts voneinander, obwohl sie sich vielleicht schon viele Male im Fahrstuhl begegnet waren. Beide waren in Berlin geboren, der eine 1929, der andere 1932. Der eine hatte Deutschland im Dezember 1938 verlassen, der andere im Herbst 1939. Beide verband ein ähnliches Schicksal. Manhattan hat mehr als 1,6 Millionen Einwohner*innen und zwei Ex-Berliner wohnen quasi Tür an Tür, ohne es zu wissen. Beide, Jack Wolkenfeld und John Steinmetz, sind unterdessen Stifter und ihre Familiensammlungen bereichern unsere Bestände.
Inzwischen haben wir mehr als 1.600 Familiensammlungen und Nachlässe, die inventarisiert, in unserer Datenbank erschlossen und dort z. B. nach Personen durchsuchbar sind. So kommt es mittlerweile relativ häufig vor, dass wir personenbezogene Anfragen von externen Nutzer*innen nach Dokumenten und Fotografien von deutschen Juden*Jüdinnen positiv beantworten können. Aber ein bisschen Glück braucht es dabei schon.
Ein Zufallsbesuch während der Berlinale
Ich will hier von einem glücklichen Zufall erzählen, der sich vor drei Jahren ereignete, und mir als sehr besonders in Erinnerung geblieben ist. Am Mittwoch, den 15. Februar 2017 hatte ich Dienst im Lesesaal in der Akademie des Jüdischen Museums Berlin, der von Gästen der Biblothek und des Archivs gemeinsam genutzt wird. Es war ruhig an dem Tag, bis ein Spontanbesucher seinen Kopf durch die Tür steckte. Sein Name war Juan Mandelbaum, ein Filmemacher aus den USA, der wegen der Berlinale in Berlin weilte. Er nutzte die Zeit zwischen zwei Filmen, um im Archiv des Museums nach der Familie seines Vaters zu recherchieren, die aus Mannheim stammte. Wir kamen ins Gespräch. Dokumente zu seiner Familie hatten wir leider keine, aber ich versorgte ihn mit ein paar lokalgeschichtlichen Büchern aus der Bibliothek.
Schon im Gehen begriffen, begann er mir von seiner Familie mütterlicherseits zu erzählen, von der Familie Bley aus Trier. Juan sagte mir, dass dieser Teil der Familie katholisch war. Aber sein Onkel Josef war mit einer Jüdin verheiratet: Ilses Familie besaß ein großes Kaufhaus in Trier. Sie mussten Mitte der 1930er Jahre emigrieren und gingen nach Argentinien. 1939 wanderte auch Juans Mutter dorthin aus und Juan wurde dort geboren.
Wie der Zufall es wollte, hatte ich wenige Wochen zuvor eine Sammlung für das Archiv entgegengenommen, in deren Mittelpunkt eine Familie aus Trier stand. Sie hatte über zwei Generationen ein Warenhaus besessen, das zunächst von Hermann Haas und nach seinem Tod 1886 von seinen Söhnen Max und Albert betrieben wurde. Also fragte ich Juan, ob er vielleicht das Kaufhaus Haas meine. Er war sprachlos, dass ich es kannte. Wahrscheinlich dachte er in dem Augenblick, dass ich alle früheren jüdischen Kaufhäuser im Deutschen Reich kennen würde, dabei war es nur ein glücklicher Zufall.
Im richtigen Moment am richtigen Ort
Da ich die Sammlung noch nicht vollständig inventarisiert hatte, war sie in unserer Museumsdatenbank noch nicht verzeichnet. Hätten also meine Kolleginnen gerade Lesesaaldienst gehabt, hätten sie Juan mit bestem Wissen und Gewissen gesagt, dass wir leider keine Unterlagen zu einem Kaufhaus in Trier haben.
Wir hatten die Sammlung von Edna Haas gestiftet bekommen, die 1954 in Israel geboren wurde, aber seit einigen Jahren in Berlin lebt und mit der ich persönlich bekannt bin. Ihr Vater Fritz stammte aus Trier und wanderte als 20-Jähriger nach Palästina aus. Ednas Großvater Albert Haas starb 1933 in Trier. Juans Cousine Alice, die in Buenos Aires lebt, sei die Enkeltochter von Max Haas, der aus Trier nach Argentinien ausgewandert war.
Selbstverständlich informierte ich sofort Edna und fragte sie, ob sie Juan noch am selben Abend treffen wolle. Die Zeit drängte, weil er am nächsten Tag in die USA zurückfliegen sollte. Edna zögerte keinen Moment. Ich selbst war an diesem Abend leider verhindert, sonst hätte ich es mir nicht nehmen lassen, bei diesem Treffen dabei zu sein. Gleich am nächsten Morgen bekam ich aber einen detaillierten Bericht, wie der Abend verlaufen war. Edna und Juan waren gemeinsam Abendessen und hatten dann spontan mit Alice Bley, der zwölf Jahre älteren Cousine zweiten Grades, geskypt.
„Es war so emotional“, erzählte mir Edna. Und Juan berichtete mir glücklich:
„Edna und Alice erinnerten sich beide an vieles, was sie jetzt miteinander teilten. Alice hatte Edna als frisch verheiratete Frau sogar zu Hause in Israel besucht und erinnerte sich noch, was Edna damals trug! Edna und ihr Vater waren wiederum eng mit einem Bratschisten der Israelischen Philharmoniker befreundet, der der Freund meiner Mutter in Trier gewesen war. Wir waren alle sehr bewegt und dankbar. Und das ist erst der Anfang.“
Viel zu erzählen
1963 hatten sich die beiden Cousinen zum ersten und – bislang – letzten Mal gesehen. Danach brach der Kontakt zwischen dem Familienteil in Israel und dem in Argentinien ab. Zu sehr beschäftigt waren beide Seiten mit ihrem Alltag, zu groß war die räumliche Distanz. Juan sollte mit seiner Prophezeiung aber Recht behalten. Der erste Kontakt war nur ein Anfang. Man chattet seitdem manchmal miteinander und gratuliert sich gegenseitig zum Geburtstag.
Auch ich stehe seit Februar 2017 in direktem Kontakt mit Alice. Zwei Tage nach ihrer virtuellen Begegnung mit Edna schrieb sie mir:
„Ich stehe noch unter einer Art spirituellem ‚Schock' ... einem wunderbaren...!!! Jahrzehntelang habe ich mir gewünscht, so viel über meine Vorfahren zu ‚wissen‘, über ihre Leben und ihre Geschichten.“
Nun verstand Alice plötzlich manches, das für sie bedeutsam ist, z. B. woher sie ihren Vornamen hat. Benannt wurde sie nach Ednas Großmutter Alice Haas geb. Loeser. Diese war 1936 ebenfalls nach Palästina ausgewandert, wo sie drei Jahre später starb. Als Alice 1942 in Buenos Aires geboren wurde, nannten ihre Eltern sie nach der verstorbenen Tante.
Eine weitere Schenkung
Drei Jahre sind seit dem spontanen Besuch von Juan im Lesesaal vergangen. Zusätzlich zu den zahlreichen Dokumenten und Fotografien, die wir von Edna Haas bereits 2016 gestiftet bekommen haben, schenkte uns Alice Bley 2019 dann ein Dutzend Fotografien, die vor allem Max Haas und seine Tochter Ilse (Alices Mutter) zeigen.
Auf einem der Fotos ist das Warenhaus Haas zu sehen, wie es nach dem Umbau 1912 aussah. Das elegante Geschäftshaus präsentiert sich in sachlich-neoklassizistischen Formen. In Ednas Wohnzimmer in Berlin hängt derweil eine Ansicht desselben Hauses, die ein paar Jahre früher aufgenommen wurde und das Gebäude noch mit einer Fassade im Stile des Historismus zeigt.
In beiden Familienzweigen wird die Erinnerung an die Geschichte des Kaufhauses bis heute in Ehren gehalten. Traumatisch verlief das Ende nach der nationalsozialistischen Machtübernahme: Unter dem Vorwand von Devisenvergehen verhafteten die Nationalsozialisten am 13. Mai 1933 die beiden Brüder Max und Albert Haas sowie Max’ Ehefrau Jeanne geb. Oster. Der Stürmer und das lokale Nazi-Blatt hetzten gegen die „Judenfamilie“ und berichteten über den „jüdischen Devisenskandal in Trier“. Max’ Ehefrau nahm sich in der Untersuchungshaft das Leben.
Die Brüder Haas wurden schließlich wieder aus dem Gefängnis entlassen. Erwirkt hatte dies der Gerichtsreferendar Josef Bley, der später der Ehemann von Ilse Haas und Vater von Alice werden sollte. Albert Haas erlitt kurze Zeit nach seiner Freilassung einen Herzinfarkt und starb am 6. September 1933 im Alter von 59 Jahren. Der Witwer Max Haas emigrierte verarmt und als gebrochener Mann nach Argentinien. Das Kaufhaus wurde „arisiert“ und firmierte fortan unter dem Namen „Insel Textilhaus Dorn und Kempkes“.
Kein Zufall war es hingegen, dass ich im Sommer 2017 einen Ausflug nach Trier unternahm, als ich meinen Urlaub in der Gegend verbrachte. Schnurstracks ging ich zur Fahrstraße. Es war auch für mich ein besonderer Moment, vor dem einstigen Kaufhaus Haas zu stehen.
Jörg Waßmer, Archiv, glaubt an Zufälle.
Zitierempfehlung:
Jörg Waßmer (2020), Das gibt’s doch nicht! Oder doch?. Zufälle im Archiv.
URL: www.jmberlin.de/node/6801
Blick hinter die Kulissen: Anekdoten und spannende Funde bei der Arbeit mit unseren Sammlungen (21)