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Ludwig Guttmann, Vater der Special Olympics

Ein Pionier wie Robert Koch, ein Visionär wie Coubertin

2012 wurde im englischen Stoke Mande­ville eine große Bronze­­statue zu Ehren eines jüdischen Arztes aus Breslau enthüllt, der trotz seiner bewegenden Geschichte, seinen Pionier­leistungen und der inter­nationalen Bedeutung seines Werkes in Deutsch­land nahezu unbekannt ist: Ludwig Guttmann, der Vater der Para­lympischen Spiele wie auch der Special Olympics. Mehr als zweieinhalb Millionen Zuschauer werden ab dem 29. August 2012 in London den über 4.000 Athlet*innen bei den Paralympics zujubeln. In Groß­britannien ist Guttmann berühmt, er wurde mit dem Orden des British Empire ausgezeichnet und die BBC widmete ihm einen Film mit dem Titel The Best of Men.

Ludwig Guttmann kam 1899 als Kind einer orthodox-jüdischen Familie im oberschle­sischen Tost zur Welt. Er verbrachte seine Kindheit und Jugend in Königshütte, wo er am dortigen Kranken­haus erstmals mit Querschnitts­gelähmten arbeitete. Nach seinem Medizin­studium in Breslau und Freiburg spezialisierte er sich ab 1924 auf die noch junge Disziplin der Neuro­chirurgie, und bald galt er als einer der führenden Ärzte auf diesem Gebiet.

Nach der Macht­übergabe an Hitler 1933 durfte er nicht mehr an einem öffentlichen Kranken­haus praktizieren. Trotz mehrerer Angebote aus Amerika verblieb er in Deutsch­land und ging als Facharzt an das Israelitische Kranken­haus in Breslau, später übernahm er als Direktor auch dessen Leitung. Während des November­pogroms 1938 wies er sein Personal nach Bekannt­werden der Gewalt­exzesse an, alle Geflüchteten ohne Prüfung in das Kranken­haus aufzunehmen. Trotz einer Gestapo-Unter­suchung am Kranken­haus konnte er so 60 jüdische Bürger*innen vor der Inhaf­tierung und Verschleppung in ein KZ bewahren.

Im Frühjahr 1939 verließ er mit seiner Familie Deutschland und emigrierte nach Groß­britannien. Mit der Hilfe von Fach­kollegen konnte er in Oxford seine medizinischen Forschungen zu Querschnitts­lähmungen fortsetzen, die er sein ganzes Berufs­leben lang betrieb. 1943 bat die britische Regierung den als Koryphäe bekannten Exilanten, ein Nationales Zentrum für Rückenmarks­behandlung aufzubauen. Im folgenden Jahr wurde bereits das Stoke Mandeville Hospital unter seiner Leitung eröffnet, das vor allem Kriegs­invaliden betreute.

Ein Rennrollstuhlfahrer im schwarzen Trikot fährt auf einer Rennbahn.

Marc Schuh, Rennrollstuhlfahrer (Mittelstecke), Teilnehmer der deutschen Mannschaft bei den Paralympics London 2012; Behinderten-Sportverband Berlin e.V.

Guttmann sah es als seine vorrangige Aufgabe an, den Querschnitts­gelähmten nicht nur eine körperliche Reha­bilitation zu ermöglichen, sondern auch ihr Selbst­bewusstsein mit der dauer­haften Behin­derung zu vereinen. Bis dahin war die Behandlung dieser „hoffnungslosen Fälle“ fast aus­schließlich auf das Kranken­bett beschränkt. Der emigrierte Arzt und Pionier nahm verschiedene Therapie­ansätze auf und brachte die Invaliden wortwörtlich und übertragen wieder „in Bewegung“. Als er später seinen Patienten im Roll­stuhl bei einem selbst erdachten Ball­spiel zusah, erkannte er die Bedeutung des Sportes auch für den eigenen und fremden Umgang mit Behin­derungen: Statt als „Krüppel“ sollten sie als selbst­bewusste und arbeits­fähige Mitglieder der Gesell­schaft das Hospital verlassen, und die körperliche Aktivität sah Guttmann als Brücke dahin. Schon bald gehörte Sport zum festen Prog­ramm der Reha­bilitation in Stoke Mandeville und ist es bis heute geblieben.

Aber Guttmann ging weiter auf seinem Weg. Als Pionier einer ganz­heitlichen Therapie erkannte er die Möglich­keit öffentlicher Aner­kennung und das Motivations­potenzial des Wett­kampfsportes für Behinderte. Drei Jahre nach Kriegs­ende organisierte er zeitgleich mit den Olympischen Spielen in London erstmals die Stoke Mandeville Games, die heute als die Geburts­stunde der Para­lympics gelten. In den kommenden Jahren wuchsen die Wettkampf­spiele unter Guttmanns Leitung immer weiter, und 1960 erfüllte sich dessen Vision: Parallel zu den Olympischen Spielen in Rom fanden unter dem Schirm des IOC die International Stoke Mandeville Games statt. Seitdem gehören die Paralympics zu Olympia und wurden zum sportlichen Weltereignis. Nach diesem Erfolg gründete Guttmann 1961 den Britischen Behinderten­sportverband. Für seine Verdienste erhielt er zahlreiche internationale Ehrungen und wurde 1966 in Groß­britannien zum Ritter geschlagen.

Sir Ludwig Guttmann verstarb 1980 in seiner Exilheimat. Seinen zahllosen Patienten und Para­lympioniken blieb er als ihr „Poppa“ in Erinnerung, der Sportwelt als Begründer und Vater der Paralympics. Das Jewish Museum London nannte ihn in einer Ausstellung den „Coubertin der Gelähmten“.

Manfred Wichmann, Archiv

Zitierempfehlung:

Manfred Wichmann (2012), Ludwig Guttmann, Vater der Special Olympics. Ein Pionier wie Robert Koch, ein Visionär wie Coubertin.
URL: www.jmberlin.de/node/9645

Blick hinter die Kulissen: Anekdoten und spannende Funde bei der Arbeit mit unseren Sammlungen (21)

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