
Abschiedsbrief, Tinte auf Papier
Im Archiv des Jüdischen Museums Berlin bewahren wir einen bewegenden Brief auf, den Marianne Joachim am 4. März 1943 an ihre Schwiegereltern schrieb. Noch am selben Tag wurde die junge Frau in der Haftanstalt Berlin-Plötzensee hingerichtet. Was war geschehen?
Marianne und Heinz Joachim schlossen sich vermutlich 1941 der Widerstandsgruppe um Herbert Baum an. Herbert Baum, ein Jude und Kommunist, scharte seit 1933 Freund*innen und Gleichgesinnte um sich, um Widerstand gegen die nationalsozialistische Politik zu leisten. Am 18. Mai 1942 versuchte die Gruppe, die antisowjetische Ausstellung Das Sowjetparadies im Berliner Lustgarten in Brand zu setzen. Unter den Mitgliedern, die wenig später verhaftet und zum Tode verurteilt wurden, waren auch Marianne und Heinz Joachim.
Abschiedsbrief von Marianne Joachim 1943
-
Abschiedsbrief von Marianne Joachim geb. Prager (1921–1943), Berlin-Plötzensee, 4. März 1943; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. L-2003/19/131, Foto: Jens Ziehe
Dokument lesen (Übersetzung) -
Die zweite Seite des Abschiedsbriefs von Marianne Joachim geb. Prager (1921–1943), Berlin-Plötzensee, 4. März 1943; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. L-2003/19/131, Foto: Jens Ziehe
Dokument lesen (Übersetzung)

Abschiedsbrief von Marianne Joachim geb. Prager (1921–1943), Berlin-Plötzensee, 4. März 1943; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. L-2003/19/131, Foto: Jens Ziehe
Transkription des Briefes, Seite 1:
„Name des Briefeschreibers: Joachim Marianne Sara
Berlin-Plötzensee, den 4. März 1943
Meine lieben Schwiegereltern,
nun müsst Ihr zum zweiten Male die traurige Gewissheit erfahren, dass Ihr ein Kind verloren habt; wenn es auch diesmal nur Eure Schwiegertochter ist. Mir tut bloss leid, dass ich nicht an ein Jenseits glauben kann; sonst wäre ich schon jetzt glücklich in der Vorfreude auf ein Wiedersehen mit meinem, Eurem Heini. – Aber auch so fällt es mir nicht schwer, aus dem Leben zu gehen; mir tun nur Vati und Mutti so unsagbar leid! Steht ihnen bei in dieser schweren, für sie schwersten Zeit! Ich habe ihnen immer noch Hoffnung gemacht – obwohl ich selbst gar keine mehr hatte – ich dachte nämlich, dass sie inzwischen nicht mehr hier sind und dadurch meine Hinrichtung nicht mehr erfahren. Aber nun müssen sie sich in“

Die zweite Seite des Abschiedsbriefs von Marianne Joachim geb. Prager (1921–1943), Berlin-Plötzensee, 4. März 1943; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. L-2003/19/131, Foto: Jens Ziehe
Transkription des Briefs, Seite 2:
„das Unvermeidliche schicken und versuchen, das Schwerste zu tragen – genau, wie ich versucht habe, gefasst meinen schwersten Schicksalsschlag vor nunmehr fünf Monaten – als ich davon erfuhr – zu überwinden. Ganz bin ich nie damit fertig geworden, aber kein einziger Mensch hat erfahren, was ich damals durchgemacht habe. Na, Dir, liebe Mama, brauche ich wohl nicht erst zu sagen, wie sehr ich gelitten habe! –
Meinen Nachlass habe ich an Deine Adresse gehen lassen, liebe Mama, weil ich doch nicht weiss, wie lange meine lieben Eltern noch hier sind. Nun will ich Euch, meine liebe Mama, lieber Alfons-Papa, Rudi, Nanni, Stupsi, meine süssen Lieblinge Gertchen und Werner, noch meine letzten Grüsse sagen und alles erdenkliche Gute wünschen! Ganz besonders herzliche Grüsse an Erich, dem ich in Gedanken kräftig die Hand drücke. Auch den andern Verwandten, Familie Reetz, Neumann, Arndt u.s.w. letzte Grüsse.
Lasst mein kleines Muttchen und Vati nicht allein! Helft ihnen ein bisschen! Auch Euch danke ich für alles Liebe und Gute! Herzliche Abschiedsküsse Euch allen
von Eurer Marianne.“
Aus ihrem Brief erfahren wir, dass es für Marianne Joachim der „schwerste Schicksalsschlag“ war zu erfahren, dass ihr Mann bereits am 18. August 1942 – ebenfalls in Berlin-Plötzensee – hingerichtet worden war. Ihre größte Sorge galt ihren Eltern, Jenny und Georg Prager. Sie wurden im März 1943 nach Auschwitz und Theresienstadt deportiert und kamen dort ums Leben. Mariannes Schwester Ilse konnte mit einem der letzten Kindertransporte nach England entkommen. Heinz Joachims Vater Alfons starb Ende 1944 im KZ Sachsenhausen. Seine Mutter Anna war nicht jüdischer Herkunft und hat die Zeit des Nationalsozialismus – ebenso wie seine Brüder – deswegen überlebt.
Marianne Joachims Abschiedsbrief wurde dem Jüdischen Museum Berlin von dem Bruder ihres Mannes, Manfred Joachim, als Dauerleihgabe überlassen. Von März bis August 2010 war er in unserer Dauerausstellung zu sehen – eine kurze Zeit für ein solch beeindruckendes Schriftstück.
Wir konnten den Brief leider nur sechs Monate lang zeigen, weil er mit Tinte geschrieben und deshalb empfindlich ist. Tinte ist ein delikates Material. Es soll gut und kontinuierlich aus dem Füllfederhalter fließen. Dazu muss die farbgebende Komponente sehr fein sein und sich gut im Wasser lösen lassen. Daher werden für Tinten statt in Wasser unlöslichen Pigmenten verschiedene, meist synthetisch hergestellte Farbstoffe verwendet. Durch Lichteinfluss wird die chemische Struktur der Farbstoffmoleküle dauerhaft verändert. Bei einer längeren Ausstellungsdauer würde das intensive Tintenblau der Schrift unwiederbringlich mehr und mehr verblassen. Marianne Joachims eindrucksvollen Abschiedsbrief könnten wir dann nur noch schwer lesen.
Maren Krüger, Ausstellungen, und Stephan Lohrengel, Restaurierung
Zitierempfehlung:
Maren Krüger/Stephan Lohrengel (2013), Abschiedsbrief, Tinte auf Papier.
URL: www.jmberlin.de/node/6751
Blick hinter die Kulissen: Anekdoten und spannende Funde bei der Arbeit mit unseren Sammlungen (22)