Zeugnisse der Brutalität
Quellen zu antisemitischen Gewalttaten in Deutschland 1930–1938 in den Beständen des Jüdischen Museums Berlin
Als Wandprojektion in unserer Dauerausstellung sowie als Webanwendung visualisiert die Topographie der Gewalt auf erschreckend beeindruckende Weise die Zunahme und Ausbreitung der gewalttätigen Übergriffe auf Jüdinnen*Juden im Deutschen Reich zwischen 1930 und 1938: sie richten sich gegen Personen, jüdische Einrichtungen und Unternehmen.
Hinter jedem der dort genannten Übergriffe verbergen sich individuelle Gewalterfahrungen auf Seiten der Opfer. Inwiefern findet diese Gewalt aber einen Niederschlag in Dokumenten oder anderen Objekten in unserer museumseigenen Sammlung?
Die rund 1.600 Familiensammlungen in unserem Archiv enthalten ...
... eine Vielzahl von Dokumenten aus der NS-Zeit. Begibt man sich auf die Suche nach zeitgenössischen Informationsquellen, die die Perspektiven und Erlebnisse der Gewaltopfer wiedergeben, wird man jedoch nur selten fündig. Nur wenige der bei uns befindlichen Dokumente aus den Jahren 1933 bis 1938 beschreiben gewalttätige Übergriffe. Einige der zeitgenössischen Quellen stehen zwar im Zusammenhang mit Gewalttaten, sie thematisieren aber nicht die Gewalt selbst. Weitaus häufiger findet man Gewaltschilderungen in Dokumenten, die erst nach der Befreiung 1945 entstanden sind, vor allem in Entschädigungsunterlagen aus den 1950er und 1960er Jahren, aber auch in Memoiren.
Bereits am 28. Februar 1933 setzten die Nazis das Briefgeheimnis außer Kraft. Auf diese Briefzensur reagierten viele Jüdinnen*Juden mit großer Vorsicht und achteten genau darauf, was sie in ihren Korrespondenzen niederschrieben. Aus diesem Grund sind in Briefen, die von Deutschland aus verschickt oder nach Deutschland geschrieben wurden, keine Hinweise auf Gewalt zu finden, sie wird allenfalls angedeutet. So auch in den Zeilen, die Ernst Pinner am 11. November 1938 aus Berlin an seine Schwester Grete in Palästina schrieb:
„Ich habe nicht die Absicht, Dir heute mehr zu schreiben als daß wir gesund sind. Das sonstige Schlimme steht in den Zeitungen. Laß mich also schweigen.“
Hinzukommt, dass Gewaltopfer extrem unter Druck gesetzt wurden, über ihre Erlebnisse zu schweigen. Im März 1939 beschreibt die 15-jährige Ulla Dienemann die Verhaftung ihres Vaters nach dem 9. November 1938 und seine Rückkehr aus dem KZ Sachsenhausen in einem Brief:
„Vati kam dann mit ganz zerknitterten Sachen nach Haus, denn sie waren alle entlaust worden! Erzählt wie es im K.-Z. war, hat er mir nicht. Das durfte er nicht! Dann hatte er schrecklichen Husten und der Arzt dachte es wäre Bronchitis. Später stellte sich heraus, daß Vati Eiter im Kopf hatte! Nun schreibt das aber nicht nach D. [=Deutschland] daß und was ich Euch geschrieben darüber habe.“
Solche Ausführungen bilden eine Ausnahme. Im vorliegenden Fall konnte Ulla Dienemann nur deshalb so deutlich werden, weil sie ihren Brief aus Großbritannien an Verwandte in Palästina schickte und somit weder Briefzensur noch Konsequenzen für Angehörige fürchten musste.
Selbst in Tagebüchern, die während der NS-Zeit geführt wurden, finden Gewaltübergriffe selten Erwähnung, denn auch Hausdurchsuchungen waren eine reale Gefahr. Leonhard Jacobson ließ in einem Tagebuch eineinhalb Seiten frei, um dort zu einem späteren Zeitpunkt die rund um den 9. November 1938 verübten Terrorakte nachzutragen. Erst nach seiner Emigration im Februar 1939 in die USA notierte er die Namen der Verwandten, die Gewalt erfahren hatten, und schrieb über seine ständige Angst vor einer Verhaftung:
„Der liebe Gott hat uns behütet, aber was wir durchgemacht haben, kann ich […] nicht beschreiben. Wir zitterten immer wenn die Glocke ging!“
Zitierempfehlung:
Sabrina Akermann (2020), Zeugnisse der Brutalität. Quellen zu antisemitischen Gewalttaten in Deutschland 1930–1938 in den Beständen des Jüdischen Museums Berlin.
URL: www.jmberlin.de/node/8131
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