Jüdische Gegenwart in Deutschland: Wo sind die Jüngeren? Ein Gespräch mit Karen Körber

Farbfotografie von Karen Körber, die mit den Händen gestikuliert

Dr. Karen Körber war die erste Fellow des Jüdischen Museums Berlin. © JMB, Foto: Ernst Fesseler

In den vergangenen Jahren hat die jüdische Gemeinschaft in Deutschland einen tiefgreifenden Wandel erlebt: Die Protagonisten dieses Wandels stehen im Mittelpunkt der Forschungsarbeit von Dr. Karen Körber. Als erste Fellow des Jüdischen Museums Berlin hat sie über zwei Jahre »Lebenswirklichkeiten. Jüdische Gegenwart in Deutschland« erforscht und mir  im Gespräch nun von ihren Erkenntnissen berichtet.

Karen, das Fellowship-Programm des Jüdischen Museums Berlin unterstützt Forschungsvorhaben zur jüdischen Geschichte und Kultur sowie zu Migration und Diversität in Deutschland – Du hast als erste Fellow nun das zweijährige Programm beendet, wie waren Deine Erfahrungen als Pionierin?

Ich fand eine sehr offene Situation vor, in der ich alle Freiheiten genießen konnte. Grundsätzlich ist ein Fellowship eine sehr privilegierte Situation, im Fall des hiesigen Programms bedeutete es auch noch die Anbindung an eine gut aufgestellte Institution mit renommiertem Namen.

Wie kamst Du nun zu dem Forschungsvorhaben »Lebenswirklichkeiten. Jüdische Gegenwart in Deutschland«?

Diesen Forschungsgegenstand hatte ich bereits in anderen Projekten berührt und mich auch schon in meiner Doktorarbeit mit der Zuwanderung aus Osteuropa beschäftigt, als ich von Seiten des Museums das Angebot für ein Fellowship bekam. Für mich war es also ein glücklicher Zufall, dass ich meine Forschungsfragen noch einmal bündeln und daraus ein neues, konkretes Projekt entwickeln konnte.

Wenn es um jüdische Gegenwart in Deutschland geht: Warum hast Du Dich auf Zuwanderer aus dem ehemaligen Ostblock konzentriert?

Weil diese rein numerisch die größte Zahl ausmachen und so auch einen ganz entscheidenden Einfluss auf Gegenwart und Zukunft des jüdischen Lebens in Deutschland ausüben.

Kannst Du noch einmal kurz beschreiben, wie es dazu kam?

Eine Familie sitzt um einen reichlich gedeckten Tisch und isst

2012 zeigte das Jüdische Museum Berlin die Ausstellung »Russen Juden Deutsche« mit Bildern von Michael Kerstgens. Er ist einer der wenigen Fotografen, die den Prozess der Einwanderung russischsprachiger Juden aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland intensiv und über einen längeren Zeitraum dokumentiert haben.
Michael Kerstgens, Die Familie Mirte aus Georgien im Übergangsheim, Weiden/ Oberpfalz 2001 © Jüdisches Museum Berlin

Seit 1989/90 durften Juden aus den ehemaligen Sowjet-Staaten nach Deutschland einwandern. Gleichzeitig waren die jüdischen Gemeinden hierzulande stark überaltert und hatten nur wenige Mitglieder: etwa 30.000 in der alten Bundesrepublik und 300 bis 400 registrierte Mitglieder in der ehemaligen DDR. Diese Zahlen haben sich durch die Zuwanderung sehr schnell und dynamisch nach oben verändert. Jetzt haben die Gemeinden nach Angaben des Zentralrats über 100.000 Mitglieder und noch einmal so viele, die außerhalb der Gemeinde leben. Damit einher geht eine verstärkte religiöse Pluralisierung sowie eine wachsende Zahl an jüdischen Bildungseinrichtungen.

Wie ist die Situation nun heute?

Heute stehen die jüdischen Gemeinden – wie auch andere religiöse Gemeinschaften – wieder vor einem Dilemma: Die Jüngeren bleiben weg, die verbleibenden Mitglieder überaltern. Diese Befunde bilden dann auch den Ausgangspunkt für mein Forschungsvorhaben. Wenn die Jüngeren Gegenwart und Zukunft sind, aber nicht mehr in diesen Institutionen auftauchen, dann ist die Frage: Wo sind sie und was machen sie?

Wie bist Du vorgegangen, um diese Fragen zu beantworten?

Das Forschungsdesign beinhaltete zum einen eine Online-Befragung, die Ende 2013 durchgeführt wurde und sich an die 20- bis 40-Jährigen richtete, die mit ihren Eltern zugewandert sind. Sie haben wir gefragt, wie sie ihr Jüdisch sein verstehen, was sie machen, wie sie leben usw. Zusätzlich haben wir 30 persönliche Interviews geführt.

Was waren die Ergebnisse?

Tatsächlich sind 35 Prozent der Befragten nicht mehr in den Gemeinden, die übrigen 65 Prozent verteilen sich auf Liberale, Orthodoxe sowie Lauder- und Chabad-Mitglieder. Die Pluralisierung und Abwanderung aus den Institutionen wird also bestätigt. Mehrheitlich verstehen sich die jungen Zuwanderer als säkular-liberal – unabhängig davon, ob sie Gemeindemitglieder sind oder nicht. Ihr Selbstverständnis ist ethnisch oder kulturell bestimmt, aber kaum religiös. Dabei unterscheidet sich diese Generation durchaus von den zugewanderten Herkunftsfamilien: Sie wenden sich wieder stärker dem Judentum zu, tun das aber mit einer liberal-säkularen Kennzeichnung. Ihre Anbindung an Traditionen und religiöse Praxen ist entsprechend lose und hochgradig individualisiert. Hier ähneln die Ergebnisse stark der US-amerikanischen PEW-Study von 2013.

Ein Graffiti mit dem Schriftzug »Life« und einem Davidstern

Bei der internationalen Konferenz »Contemporary Jewish life in a global modernity: Comparative European perspectives on a changing diaspora« steht die jüdische Gegenwart in Europa im Fokus.

 

Am 11. und 12. Dezember findet nun unter dem Titel »Contemporary Jewish life in a global modernity: Comparative European perspectives on a changing diaspora« eine große internationale Konferenz im JMB statt, bei der Du wahrscheinlich auch Deine Forschungsergebnisse vorstellst?

Ja, ich werde einen kurzen Überblick dazu geben. Das passt zum Rahmen der Tagung, die der Versuch ist, zentrale Elemente dessen, was gegenwärtig diskutiert wird, zu bündeln. Dazu gehört auch die Beschreibung von Individualisierungs- und Diversifizierungsprozessen.

Diese Prozesse sind nun nicht nur in der jüdischen Gemeinschaft zu beobachten …

… nein, sie finden generell statt, aber in der jüdischen Gemeinschaft können sie spezifische Probleme hervorrufen. Denn ein weiterer zentraler Punkt der Tagung ist die Gretchenfrage: Wie hältst Du es mit der Religion? Die Zuwanderung aus den ehemaligen Sowjet-Staaten macht die Schwierigkeiten, die sich aus dieser Frage ergeben, in Deutschland, aber auch in Israel ganz besonders sichtbar. Und abschließend geht es schließlich auch um die politische Perspektive: Wie steht es um die jüdische Gegenwart in einem Europa unendlicher Konflikte? Konflikte, die die Gemeinschaft nach innen hat, aber auch nach außen mit anderen? All diese Fragen werden Thema der Tagung sein.

Und dann auch in einem Sammelband der »Schriften des Jüdischen Museums Berlin« erscheinen?

Genau, der Sammelband wird kultur- und sozialwissenschaftlichen Aufsätze über die eingewanderten russischsprechenden Juden in Deutschland enthalten, die aus verschiedenen Perspektiven aufzeigen, in welcher Weise Phänomene von Mobilität und Migration sowie Prozesse der Pluralisierung von Identitäten und kulturellen Praktiken kennzeichnend für das gegenwärtige jüdische Leben in Deutschland sind.

Das Gespräch führte Alice Lanzke, Medien

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