Interview mit Cilly Kugelmann zur Ausstellung »Die Erschaffung der Welt. Illustrierte Handschriften aus der Braginsky Collection«
Mirjam Wenzel: Mit der kommenden Ausstellung zeigt das Jüdische Museum Berlin zum ersten Mal herausragende Beispiele der jahrhundertealten jüdischen Schriftkultur. Welche Bedeutung hat Schrift in der jüdischen Tradition?
Cilly Kugelmann: In frühen rabbinischen Textsammlungen, die biblische Texte interpretieren, den Midraschim, ist davon die Rede, dass die Tora bereits vor der Erschaffung der Welt vorhanden war. Einige Rabbiner sehen die Tora sogar als Handbuch der Schöpfung, das Gott bei seinem Werk zu Rate gezogen habe. Diese Auslegungen zeigen, welche außerordentliche Bedeutung dem überlieferten Schrifttum im Judentum zukommt.
Mit dem Verlust der geografischen Heimat Israel wurden Tempelwallfahrten und Opferdienst zugunsten eines Gebetsgottesdienstes aufgegeben, der ortsungebunden ist und überall stattfinden kann. Dabei werden die überlieferten Texte selbst zum wichtigsten und zentralen Moment des Ritus. Das Studium und die Deutung der biblischen Schriften bildet bis heute den Mittelpunkt des geistigen jüdischen Lebens.
Warum wird die Sammlung illustrierter Handschriften von René Braginsky am Jüdischen Museum Berlin unter dem Titel »Die Erschaffung der Welt« gezeigt?
Das Schreiben oder besser Abschreiben einer Tora ist ein sakraler Akt, der von hierfür besonders ausgebildeten Schreibern ausgeführt wird. Der Text wurde nach jüdischer Auffassung von Gott diktiert und von Moses aufgeschrieben. Beim Abschreiben soll eine exakte Kopie der Vorlage entstehen, das Muster des Urtextes immer vor Augen.
Der Talmud berichtet von einem Zusammentreffen von Rabbi Meir und Rabbi Jischmael im ersten Jahrhundert nach der Zeitenrechnung, bei dem Rabbi Meir gefragt wurde, was sein Beruf sei. »Tora-Schreiber« war die Antwort. »Sei vorsichtig«, antwortete Rabbi Jischmael, »wenn du auch nur einen Buchstaben auslässt oder einen hinzufügst, könntest du die ganze Welt zerstören.« Im Umkehrschluss kann man die Arbeit an der Abschrift einer Tora in Analogie zur Erschaffung der Welt sehen. Mit seiner Arbeit kreiert der Tora-Schreiber die Welt noch einmal; sie darf nicht weniger perfekt sein als Gottes Schöpfung selbst. Diese Sicht auf die Tora kann man auf den gesamten verschrifteten Kanon übertragen.
Die Besucher werden an fünf Tagen der Woche in der Ausstellung die Arbeit eines Tora-Schreibers verfolgen können. Was wird er schreiben?
Der Tora-Schreiber, der in der Ausstellung täglich mit Ausnahme von Schabbat, also Freitag und Samstag, jeweils zwei Stunden schreiben wird, kopiert das Buch »Bereschit«, das erste Buch des Pentateuch, das mit dem Satz beginnt: »Im Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde.« Darüber hinaus wird er Pergamente für die Mesusa (eine kleine, längliche Hülse, in die ein Text eingelassen wird, der mit den Worten »Schma Jisrael …«, »Höre Israel …« beginnt ) und für Tefillin beschreiben (zwei lederne Schachteln an Lederriemchen, die zum Morgengebet an die Stirn und den linken Arm gebunden werden und in die Texte eingelegt sind). Außerdem einen Heiratsvertrag, eine Ketubba, und vielleicht auch ein Scheidungsdokument, einen Get.
Die Ausstellung »Die Erschaffung der Welt. Illustrierte Handschriften aus der Braginsky Collection« ist die zweite Ausstellung in Folge mit Objekten, die von zentraler Bedeutung für den jüdischen Ritus sind. In welchem Verhältnis steht sie zu der vorangegangenen Ausstellung »Alles hat seine Zeit. Rituale gegen das Vergessen«?
Mit der »Erschaffung der Welt«, der Präsentation der wunderschönen und sehr kostbaren, zum Teil illuminierten Handschriften aus der Braginsky Collection, setzen wir eine kleine Reihe von Ausstellungen fort, in denen wir uns eingehender mit jüdischem Denken, grundlegenden jüdischen Ritualen, der Entwicklung von Brauchtum, dem dazugehörigen Kunsthandwerk und anderen religiösen Traditionen auseinandersetzen. Das Jüdische Museum Berlin ist seit über mehr als einem Jahrzehnt mit sehr unterschiedlichen Wechselausstellungen an die Öffentlichkeit gegangen. Jetzt ist es an der Zeit, einen intensiveren Einblick in die Kernfragen des religiösen Judentums zu geben. Mit »Alles hat seine Zeit« haben wir den Imperativ des Gedenkens ausgelotet, mit der Präsentation der Manuskripte aus der Braginsky Collection wenden wir uns der Schrifttradition zu, die zu den herausragenden kunsthandwerklichen Fertigkeiten der jüdischen Kultur gehören.
I love this museum.