In unserer Veranstaltungsreihe »Neue deutsche Geschichten« stellen wir unterschiedliche Perspektiven aus der Migrationsgesellschaft Deutschland vor. Die Geschichten der Migrantinnen und Migranten aus der Türkei, aus Vietnam, Polen, Indien oder Kamerun sind nicht neu – neu ist allein, dass sie als deutsche Geschichten erzählt werden. Am Dienstag, den 8. Juli ist die Regisseurin Canan Turan zu Gast in der Akademie des Jüdischen Museums. In ihrem Film KIYMET erzählt sie die Geschichte ihrer Großmutter, die Anfang der 70er Jahre aus der Türkei nach Berlin kam. Wir haben ihr vorab drei Fragen gestellt:
Wie ist die Idee entstanden, einen Film über Ihre Großmutter Kıymet zu drehen?
Meine Großmutter ist eine starke, beeindruckende Persönlichkeit mit einer Geschichte, die nicht nur sehr dramatisch ist, sondern auch ›empowernd‹, für Frauen wie auch für People of Colour. Die Idee zum Film gab es schon seit einigen Jahren. Inspiriert hat mich vor allem die Trennung meiner Großmutter von meinem Großvater; sie hat damit großen Mut bewiesen und auch mich zu mehr Emanzipation in Beziehungen ermutigt. Den Film wirklich zu drehen war dann eigentlich nur noch eine Frage der Zeit bzw. der Finanzierung. Während meines Studiums am Goldsmiths College in London habe ich schließlich die notwendige strukturelle Unterstützung dafür bekommen und konnte das Projekt realisieren.
Der Film zeichnet ein sehr persönliches Porträt. Er rückt die Geschichte von Kıymet, ihre Familie und Ehe, in der sie Gewalt und Leid erfuhr, in den Vordergrund. Die allgemeinere Geschichte der Einwanderung aus der Türkei nach Deutschland wird hingegen eher nebenher erzählt. Wieso haben Sie sich für diesen biografischen Zugang entschieden?
Die Geschichte der Migrantinnen und Migranten in Deutschland ist die Geschichte von Kıymet oder Ahmet, Emine, Hüseyin und allen anderen, die herkamen, weil sie in ihrem Herkunftsland nicht mehr leben konnten oder wollten. Geschichte ohne Biografien begreifen zu wollen und ohne den Wert von Oral History wertzuschätzen, ist ein sehr westlich/europäisches Konzept, das die menschliche Erfahrung zugunsten eines ›Master-Narrativs‹ ausblendet. Als Filmemacherin sehe ich mich außerdem in der Verantwortung, von dem zu erzählen, was ich am besten kenne, wie z.B. meine eigene Familie. Alles andere läuft Gefahr, zu ›othern‹ und repräsentieren zu wollen, was nicht repräsentierbar ist. Kurzum: Ich kenne und bewundere meine Großmutter und wollte ihre Geschichte teilen, die gleichzeitig das Leben einer bemerkenswerten Frau und ein Stück Migrationsgeschichte Deutschlands darstellt.
Trailer zum Film – der Film wird am 8. Juli mit deutschen Untertiteln gezeigt
Ihre Großmutter hat in Deutschland seit den frühen 70er Jahren für die Rechte von Arbeiterinnen und Arbeitern gekämpft und sich gegen Rassismus und Diskriminierung an Betrieben und Schulen eingesetzt. In welchen Verbänden war sie aktiv?
Meine Oma Kıymet war seit 1974 aktives Mitglied der Gewerkschaft IG Metall. Sie erzählte mir oft davon, wie stark die migrantischen Arbeiterinnen und Arbeiter dort vertreten waren und sich beispielsweise bei Demonstrationen und unterschiedlichen Protestaktionen, ganz besonders am 1. Mai, organisierten. In den 80er Jahren arbeitete sie als Putzfrau im Urban Krankenhaus in Berlin-Kreuzberg und war dort in ihrem Kollegenkreis, unter den Krankenschwestern sowie Ärztinnen und Ärzten sehr beliebt. Man wusste von ihrer Vergangenheit als Mitglied der Arbeiterpartei der Türkei und wählte sie mehrfach in den Vorstand des Betriebsrats. Nach dem Tod ihres ältesten Sohnes 1989 ging meine Oma vorzeitig in Rente. Ich bin mir sicher, dass sie sonst noch viele Jahre politisch aktiv gewesen wäre, denn sie ist nach wie vor eine sehr tüchtige und von ihrem Sinn für Gleichheit und Gerechtigkeit fest überzeugte Frau. Doch seit einigen Jahren lebt sie eher zurückgezogen in ihrer Familien- und Dorfgemeinschaft an der thrakischen Mittelmeerküste. Wie vielen anderen Migrantinnen und Migranten hat ihr das harte Leben als ›Gastarbeiterin‹ in Deutschland und dazu das Leid in ihrer Ehe stark zugesetzt, das sind zwei zentrale Gründe für ihren Rückzug.
Die Fragen stellte Julia Jürgens, Akademieprogramme Migration und Diversität.