Wie sich unsere Erinnerungskultur angesichts einer schwindenden Generation von Zeitzeugen wandelt, war das Thema der Tagung »Preserving Survivors’ Memories – Digital Testimony Collections about Nazi Persecution« im Haus der Kulturen der Welt in Berlin vom 20. bis 22. November 2012.
Den Auftakt machte Literaturwissenschaftler und Pionier der Holocaust Studies Geoffrey Hartman aus Yale University. Hartman, 1929 in Frankfurt geboren, emigrierte 1939 mit einem Kindertransport nach England. Gemeinsam mit seiner Frau Renée, die das Konzentrationslager Bergen-Belsen überlebte, engagierte er sich für die Gründung des Fortunoff Archivs, das seit den 1970er Jahren Interviews mit Holocaust-Überlebenden auf Video aufzeichnet. Interviews mit Holocaust-Überlebenden betrachtet er als ein eigenes Genre, dessen größte Bedeutung es sei, dass die Überlebenden für sich selbst sprechen. Hartman, selbst nun Zeitzeuge der Entwicklung der Testimonies und des Medienwandels von der analogen Aufzeichnung, über die Digitalisierung bis hin zur heutigen Präsentation im Web 2.0, formulierte auch Thesen zur Zukunft der Rezeption dieser Archive. Er brachte vor allem die Sorge zum Ausdruck, dass in Zeiten des »Bio-Clip-Boom« – die Omnipräsenz traumatischer Lebensgeschichten im WorldWideWeb – die »Survivors’-Clips« nicht mehr nachhaltig auf die Nachgeborenen wirken könnten.
Heute ergeben sich durch ein immer größeres Angebot an digitalisierten Zeitzeugengesprächen neue Möglichkeiten für Forschung und Lehre. Schon jetzt sind zahlreiche Video-Interviews über multimediale Web-Applikationen wie »IWitness« oder das digitale Archiv »Zwangsarbeit 1939–1945« global und jederzeit abrufbar. Aber welche Folgen hat dieser grenzenlose Zugang für die Rezipienten, die als »sekundäre Zeugen« den Überlebenden zuhören?
Konzepte, Erfahrungen und erste empirische Forschungsergebnisse zu den multimedialen Archiven wurden auf der Tagung in den Bereichen »audiovisuelle Quellen und Archive«, »Bildung« und »visuelle Medien« ausgetauscht. Es bestand Einigkeit darin, dass die Präsentation von Video-Testimonies im Schulunterricht das Gespräch mit einem lebenden Zeitzeugen nicht ersetzen kann, und auch, dass das Ziel des Einsatzes von Videointerviews im Klassenzimmer gut durchdacht und dabei die Besonderheiten des Mediums Film berücksichtigt werden sollte. So verwies die Filmwissenschaftlerin Gertrud Koch auf das Charakteristikum von Medien, die keine neutralen Träger von Inhalten sind. Vielmehr wird der Inhalt durch seine mediale Form vorstrukturiert. Nadine Fink, die das schulische Angebot der Ausstellung »L’Histoire c’est moi – 555 Versionen der Schweizer Geschichte 1939-45« untersuchte, stellte heraus, dass die Schüler sich häufig dem herrschenden Geschichtsdiskurs in der Schweiz anschlossen und divergierende Zeitzeugenberichte überhörten.
In der von Cilly Kugelmann moderierten abschließenden Podiumsdiskussion zum Thema »Einsatz von Video-Testimonies in Museen« machte Suzanne Bardgett vom Imperial War Museum (London) auf die Historizität des Mediums Video-Testimony aufmerksam: Kompilationsfilme aus alten Wochenschau-Sendungen und Zeitzeugeninterviews machen heute in der im Jahr 2000 eröffneten Holocaust-Ausstellung bereits einen historischen Eindruck. Diana Gring, die Kuratorin und Leiterin des Interviewprojektes in der Gedenkstätte Bergen-Belsen, stellte die Funktion der Videos in der 2007 eröffneten Dauerausstellung dar: Diese bilden mit ihrer visuellen Präsenz auch ein Gegengewicht zu den weltbekannten Fotos der Leichenberge nach der Befreiung. Zugleich dienen sie der historischen Forschung, da es kein überliefertes (Täter-)Fotomaterial des Lagers mehr gibt.
Zum Schluss präsentierte Freddy Mutanguha das Kigali Memorial Center in Ruanda, welches 2004, zehn Jahre nach dem dortigen Genozid, eröffnet wurde. Heute ist das Dokumentationszentrum zugleich Massengrab für etwa 250.000 Ermordete, aber auch Erinnerungs- und Lernort. Mutanguha, der zusehen musste, wie seine Familie ermordet wurde, erzählte, wie er Videointerviews sowohl mit Opfern als auch mit Tätern durchführt. Im schulischen Zusammenhang arbeitet er zudem mit Interviews von Holocaust-Überlebenden. Zunächst über den deutschen Genozid zu sprechen, so meinte er, würde den Kindern der Opfer und Täter erst die Möglichkeit eröffnen, gemeinsam über ihre Geschichte sprechen zu können.
Katharina Obens, Besucherforschung