Zweite Episode unserer Blogserie »Erinnerungen aus dem Leben Walter Frankensteins«
Jesse Owens – dieser Name ist den meisten Menschen heute noch ein Begriff. Der Schwarze US-Athlet entschied sich 1936 – entgegen den Erwartungen und Ängsten seiner Familie, Freund*innen und einer großen Zahl der US-Amerikaner*innen – an der Olympiade in Berlin teilzunehmen. Angesichts des politischen Klimas am Austragungsort, das durch Antisemitismus, Propaganda und Gewalt gegen Minderheiten geprägt war, zweifelte eine internationale Öffentlichkeit an der Chancengleichheit der Teilnehmer*innen.
Für Walter Frankenstein ist der Name Owens bis heute eng mit seinem Umzug von seiner im damaligen Westpreußen gelegenen Heimatstadt Flatow (heute Złotów) nach Berlin verknüpft. Als er am 27. Juli 1936 mit dem Zug am Bahnhof Alexanderplatz ankam, waren die Vorbereitungen für die Olympischen Sommerspiele in der deutschen Hauptstadt in vollem Gange. Walter besuchte das Spektakel mit einem Onkel mütterlicherseits und hatte so die Möglichkeit, Jesse Owens im Berliner Olympiastadion live zu erleben. Owens ging mit vier Goldmedaillen als erfolgreichster männlicher Sportler aus den Spielen hervor.
In jenem Olympiasommer wurde Walter von seinem Onkel Selmar Frankenstein in den Baruch-Auerbach´schen Waisenerziehungsanstalten (kurz: Auerbach´sches Waisenhaus) untergebracht. Bei dem 1832 gegründeten Waisenhaus handelte es sich um eine private Stiftung, die sich sowohl um Jungen als auch um Mädchen kümmerte. Die Institution bezog 1897 einen Neubau mit eigener Synagoge in der Schönhauser Allee 162.
Walter war nicht nur begeisterter Besucher von Sportveranstaltungen, er betrieb selbst aktiv Leichtathletik, boxte und spielte Hand- und Fußball im jüdischen Verein Makkabi. Auch im Auerbach´schen Waisenhaus war Sport ein wichtiger Teil der Erziehung. Regelmäßig fanden Sportfeste mit Wettkämpfen zwischen den einzelnen Zöglingen, aber auch gegen die Schüler* der jüdischen Schule in der Rykestraße statt. Walter hielt Szenen dieser Veranstaltungen, wie den Zieleinlauf seines Freundes Kurt Gumpert, mit seiner Kamera fest, die er 1936 zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte.
Neben herausge-hobenen Ereignissen dokumentierte Walter auch den Alltag im Waisenhaus. So ist Erwin Panthauers Gesichtsausdruck beim Anblick des zwei Mal wöchentlich servierten Reisschleims überliefert. Das Gericht wurde auf Anweisung Selma Plauts, der Frau des Direktors, an alle Zöglinge ausgeteilt, die etwas »schwach« aussahen. Walter, der zu dieser Gruppe gehörte, konnte sich des Reisschleims durch einen Handel entledigen: Erwin aß Walters Brei und im Gegenzug bekam Erwin Walters Stück Kuchen, das jeder Zögling* am Samstagmorgen zum Schabbat erhielt.
Bis dato war das Auerbach´sche Waisenhaus ein Refugium für 200 Kinder und Jugendliche gewesen. Walter berichtet über diese Zeit: »Wir wohnten dort wie auf einer geschützten kleinen Insel. Wir haben die Verfolgungen bis zur Pogromnacht 1938 gar nicht so richtig mitbekommen«. In besagter Nacht drang ein brandschatzender SA-Trupp in das Waisenhaus. Walter und drei weitere Jugendliche stellten sich den Eindringlingen entgegen. Sie betonten, dass viele Kinder und Jugendliche in dem Haus lebten, und aufgrund der dichten Bebauung das Feuer auch auf die Nachbargebäude übergreifen würde. Die SA-Männer zogen ab, löschten jedoch im Gehen das Ewige Licht in der Synagoge und drehten den Gashahn auf. Glücklicherweise bemerkten Walter und seinen Freunde das austretende Gas und konnten das Schlimmste verhindern. Danach stiegen die vier Jugendlichen auf das Dach des Waisenhauses. Von dort aus konnten sie die Brände in der ganzen Stadt beobachten. Ein Foto von dieser Nacht ist nicht überliefert. Allein die Vorstellung des Bildes, das sich Walter und den anderen in diesem Moment geboten haben muss, lässt mich, die die Sammlung Frankenstein betreut und sich intensiv mit Walters Leben auseinandersetzt, schaudern.
Kurze Zeit später verließ Walter Frankenstein Auerbach und zog in das Jüdische Waisenhaus Pankow. Er war bereits seit seinem Abschluss an der Jüdischen Volksschule 1938 als Maurer-Lehrling in der Jüdischen Bauschule am Ostbahnhof tätig. Sein Aufenthalt in Pankow war jedoch nur von kurzer Dauer. Das dortige Waisenhaus wurde 1940 geschlossen und die verbliebenen Kinder und Jugendlichen wurden in das Auerbach´sche Waisenhaus verlegt. Walter kehrte an den Ort zurück, an dem er eine glückliche Jugend verlebt hatte und an dem er die Frau seines Lebens kennenlernen sollte.
Aufgrund der Vielzahl der erhaltenen Fotografien aus Walter Frankensteins Zeit im Auerbach’schen Waisenhaus fiel Anna Rosemann die Bildauswahl für diesen Text nicht gerade leicht.
Weitere Fotografien aus diesem und anderen Lebensabschnitten Walter Frankensteins finden Sie in unseren Online-Sammlungen.
Wenn Sie tiefer in Walter und Leonie Frankensteins Biografie eintauchen möchten, empfiehlt sich das Buch Nicht mit uns – Das Leben von Walter und Leonie Frankenstein von Klaus Hillenbrand, das 2008 im Jüdischen Verlag bei Suhrkamp erschienen ist.