Pessach in Jerusalem
Die Zeit vor Pessach lässt mich immer an Chaos denken. Dann sieht Jerusalem ein wenig aus wie eine deutsche Stadt kurz vor Weihnachten. Alle haben frei und sind mit Vorbereitungen für das Fest beschäftigt: für den Seder-Abend wird groß eingekauft und viele kleiden sich neu ein, um an der Familientafel schick auszusehen. Ganz besonders geprägt ist Jerusalem unmittelbar vor dem Fest, durch die überall durch Häuser und Wohnung wedelnden Feudel, Besen und Staubsauger. Der Frühlings-Putz hat eine religiöse Bewandtnis: Alles, was mit Weizen, Roggen, Gerste, Hafer oder Dinkel zubereitet wird, ist während der Feiertage verboten. Die fünf Getreidearten gelten, wenn sie in Berührung mit Wasser kommen, als »Gesäuertes«, »Chametz«. Weil die Israelit*innen beim Auszug aus Ägypten aufgrund des eiligen Aufbruchs den Brotteig nicht durchsäuern konnten, soll auch in der Pessachwoche nur Ungesäuertes verzehrt werden.
Für Pessach wird daher der Haushalt so gereinigt, dass man keinen einzigen Krümel Chametz finden kann. Ein Fest für die Glutenintoleranz! Besteck und Geschirr, das man sonst verwendet, wird in Schränken verschlossen oder in den Keller verbannt. Stattdessen wird das Feiertags-Set hervorgeholt. Pessach ist auf diese Weise zum Synonym für eine große Putzaktion geworden– »Pessach-machen« heißt so viel wie »gründlich putzen« und – im übertragenen Sinne – »etwas auf den Grund gehen«. Zu meinen frühesten Kindheitserinnerungen gehört das große Lagerfeuer, in dem zu Paketen verschnürtes Brot und Getreideprodukte verbrannt worden sind. In Jerusalem und in anderen Städten Israels werden alte Klamotten aussortiert, alles Überflüssige findet seinen Weg in den Mülleimer.
Die gesellschaftliche Vielfalt in Jerusalem bringt zugleich eine Vielfalt an Vorbereitungs-Ritualen mit sich. Im Stadtviertel Me’a Shearim kann man in der Zeit kurz vor dem Fest Männer beobachten, die mitten auf der Straße in großen Töpfen Geschirr abkochen und so für Pessach koscher machen. In einigen Ecken der Stadt nehmen die Kinder ihre Mahlzeiten in den Treppenhäusern zu sich, um dafür zu sorgen, dass das Putzen nicht umsonst war.
Ähnlich der Frage, ob am Schabbat öffentliche Verkehrsmittel betrieben werden sollten, ist in Jerusalem zu Pessach die Frage nach dem Verkauf von Chametz immer sehr präsent gewesen. Ich kann mich an Polizist*innen erinnern, die Geldstrafen an Restaurant- und Café-Betreiber*innen verteilt haben, weil sie ihren Gästen während der Feiertage Gesäuertes servierten. Jedes Jahr ärgern sich schlecht informierte Tourist*innen, die vergeblich ein Stück Brot kaufen wollen. Faulen Studierenden geht es genauso – man erwacht in der vorlesungsfreien Zeit und reibt sich in Supermärkten die Augen, deren Regale mit Plastiktüten bedeckt und mit der Aufschrift »Chametz!« versehen sind. Wohl oder übel muss man sich mit Ersatzprodukten für Pessach begnügen oder früh genug dafür sorgen, dass man zu Hause weiter Pasta und Brot essen kann. Muslim*innen in Jerusalem sind natürlich auch vom Pessach-Fest betroffen. Zum Glück der weniger streng Pessach-Feierenden kann man in ihren Geschäften im östlichen Teil der Stadt Brot und weitere nicht-koschere Produkte kaufen.
Nach dem Sturm, kommt der Seder: alle Familienmitglieder versammeln sich um einen Tisch. Für den Ablauf des Seder-Abends finden sich in Jerusalem – und in Israel überhaupt – ebenso viele Muster wie für die Vorbereitung darauf. In meiner Familie mütterlicherseits pflegte mein Großvater die ganze Haggada vor etwa 30 Familienmitgliedern vom Anfang bis zum Ende vorzulesen. Die stark jemenitische Melodie, in der er den Text vortrug, sorgte dafür, dass meine vielen Cousinen, Cousins und ich nichts verstanden und uns sehr langweilten. Nur ab und an erlaubte mein Großvater seinen beiden Söhnen, einige Passagen zu übernehmen. Anders in der Familie meines Vaters! Dort durfte jedes lesefähige Familienmitglied aus der Haggada vorlesen. Zu essen gab es immer Fisch und Fleisch, Suppe und viele andere Gerichte.
Von Freund*innen aus aschkenasischen Familien habe ich erfahren, dass der gefilte Fisch, ein Spezialgericht für Pessach, immer für Streit unter den Familienmitgliedern sorgt – entweder liebt man das Gericht oder man hasst es. In manchen Kreisen im Judentum ist es nicht unüblich, dass die Haggada nur zum Teil vorgelesen wird oder Gebete je nach Glauben »maßgeschneidert« werden. In intellektuellen Kreisen findet man in Jerusalem auch diejenigen, die zum Seder die Haggada gar nicht lesen wollen und stattdessen das gemeinsame Abendessen beim Vorlesen von Theaterstücken genießen.
Dana Akrish, wissenschaftliche Volontärin im Bereich Digital & Publishing, hat den größten Teil ihres Volontariats an unserer aktuellen Ausstellung »Welcome to Jerusalem« mitgearbeitet.